Einleitung
Eine Nacht der Gewalt
Aus der Dunkelheit der Schlafkammer kriechen die unzähligen Heiligenbilder von den Wänden.
Werden lebendige Zerrgestalten und dringen halb lächerlich, halb feindselig auf ihn ein.
AUGUST SCHOLTIS, 19311
Der 9. August 1932 war in der preußischen Provinz Oberschlesien ein kühler Sommertag und die sich anschließende Nacht ungewöhnlich frisch. Es sollten die letzten Stunden im Leben des 35-jährigen erwerbslosen Arbeiters Konrad Pietrzuch aus Potempa sein.2 Das unscheinbare Dorf im Kreis Tost-Gleiwitz hatte weniger als tausend Einwohner und lag nur drei Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. Hier lebte Pietrzuch mit seinem jüngeren Bruder Alfons und seiner 68-jährigen Mutter Maria in einer einfachen Hütte, deren Wände mit Heiligenbildern geschmückt waren. Fenster gab es keine.3
Die drei schliefen, als in den Morgenstunden des 10. August mehrere bewaffnete Männer anrückten. Sie kamen aus den umliegenden Dörfern und waren Mitglieder der lokalen Ortsgruppe der nationalsozialistischen Sturmabteilung (SA), im Volksmund auch »Braunhemden« genannt. Die Angreifer gingen in Stellung, öffneten die unverriegelte Tür und brüllten: »Aus dem Bett, ihr verfluchten polnischen Kommunisten! Hände hoch!« Ohne eine Reaktion abzuwarten, drangen die Bewaffneten in das Haus ein, stießen die Mutter vor die Tür und zerrten den Sohn Konrad aus dem Bett. Sie prügelten hemmungslos auf ihn ein, bis schließlich einSA-Mann einen Schuss auf ihn abgab. Alfons hörte den Schuss, während er mit dem Gesicht zur Wand stand und mit beinahe ebenso großer Wut misshandelt wurde, wohl mit einem Billardqueue oder einem Schlagstock. Seiner späteren Zeugenaussage zufolge dauerte der Überfall fast eine halbe Stunde. Kurz vor 2 Uhr fuhren die Angreifer schließlich in Richtung des benachbarten Dorfes Broslawitz (heute Zbrosławice in Polen) davon. Alfons hatte eine stark blutende Kopfwunde und war einige Zeit bewusstlos. Konrad Pietrzuch war tot.4
Der von dem Gerichtsmediziner Dr. Weimann angefertigte Autopsiebericht bezeugt die Brutalität des Überfalls: Nach den Feststellungen des Pathologen wies der Leichnam Konrad Pietrzuchs
im ganzen 29 Verwundungen [auf], von denen zwei verhältnismäßig gering waren. Besonders schwere Verletzungen wies die Leiche am Hals auf. Die Halsschlagader war vollkommen zerrissen. Der Kehlkopf hatte ein großes Loch. Der Tod ist durch Ersticken eingetreten, da das aus der Halsschlagader sich ergießende Blut durch den Kehlkopf in die Lunge gedrungen ist. Die tödliche Verletzung muss dem Pietrzuch beigebracht worden sein, als er auf dem Boden lag. Der Hals zeigt außerdem Hautabschürfungen, die von einem Fußtritt unbedingt herrühren. Außer diesen Verletzungen ist Pietrzuch am ganzen Körper zerschlagen. Er hat schwere Schläge mit einem stumpfen Beil oder einem Stock über den Kopf bekommen. Und andere Wunden, die so aussehen, als ob mit der Spitze des Billardstockes ihm ins Gesicht gestoßen worden sei.5<