: Martin Becker
: Warten auf Kafka Eine literarische Seelenkunde Tschechiens
: Luchterhand Literaturverlag
: 9783641222949
: 1
: CHF 11.20
:
: Essays, Feuilleton, Literaturkritik, Interviews
: German
: 224
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
»Was man hier erlebt, das ist manchmal so absurd wie in einem Theaterstück von Václav Havel. Oder vertrackt wie in einer Erzählung von Franz Kafka. Sie finden, ich übertreibe? Dabei habe ich doch noch gar nicht angefangen. Außerdem: Die Geschichten stimmen vielleicht nicht immer alle hundertprozentig, aber dann hätten wir uns nicht in der Kneipe treffen dürfen, wenn Sie die absolute Wahrheit hören wollen.« Martin Becker versammelt Biographien und Geschichten tschechischer Autorinnen und Autoren und verbindet sie in seinen Essays mit leichter Hand zu einer literarischen Seelenkunde des Landes.

Es sind Geschichten vom Ankommen und vom Abschied. Vom Bleiben, obwohl man es nicht mehr erträgt. Vom Gehen, obwohl man lieber bleiben möchte. Von unwahrscheinlichen Begegnungen und vom Humor, vom Zauber und von der Melancholie. Beckers Buch lädt ein, Tschechien aus einem anderen Blickwinkel zu erleben und sich in der eigenwilligen Literatur des Landes zu verlieren.

Martin Becker wurde 1982 geboren und wuchs in der sauerländischen Kleinstadt Plettenberg auf. Er kommt aus einer Arbeiterfamilie aus dem Ruhrgebiet, sein Vater war Bergmann und seine Mutter Schneiderin. Er ist freier Autor für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und berichtet in Features und Reportagen unter anderem aus Tschechien, Frankreich, Kanada und Brasilien. 2007 erschien sein mehrfach ausgezeichneter Erzählband »Ein schönes Leben«, 2014 sein Roman »Der Rest der Nacht«, 2017 sein Roman »Marschmusik« und 2021 »Kleinstadtfarben«. Martin Becker lebt mit seiner Familie in Halle (Saale).

Ganz klein, ganz groß?

Eine Annäherung an das tschechische Erzählen

»Herzlich willkommen im Land der Geschichten.« Seit einigen Jahren begrüßt die offizielle tschechische Tourismusagentur Besucherinnen und Besucher mit einer einfachen Botschaft: »Czech Republic – Land of Stories.« Normalerweise würde man einen solch lieblosen Spruch den Verantwortlichen aus der Werbebranche um die Ohren hauen. Man würde dem Geld nachtrauern, das für diese schlichte Botschaft aus dem Fenster geworfen wurde, Geld, mit dem man so viel Besseres hätte anstellen können. Ich weiß, ich weiß, Geschichten sind schön und gut, Geschichten gehen immer – aber welches Land hat denn keine zu bieten, egal, ob gute oder schlechte oder langweilige? Würde man als Staat nicht viel eher auffallen, wenn man sich als »Land ohne Geschichten« bezeichnete? Land der Geschichten, und das in der Konkurrenz mit den größeren und großen Nachbarländern, von denen manche sogar über ein Meer verfügen und somit, entschuldigt, liebe Nachbarn, über ein stark erweitertes Erzählpotenzial? Ist das wirklich euer Ernst? Ja, ihr meint es ernst. Bierernst sogar. Das »Land der Geschichten« ist nämlich durch und durch ein Land der Geschichten. Mit Leib und Seele. Ganz und gar. Das hat mich immer schon an Tschechien fasziniert: dass man gar nicht viel tun muss, um in den Sog des Erzählens zu geraten, um in diesem Prag und in diesem Land andauernd Geschichten erzählt zu bekommen, Geschichten zu erleben oder sogar selbst Geschichten zu schreiben, grotesk, originell, absurd, unglaublich – und nicht selten alles zugleich.

Mich hat das sogenannte »Land der Geschichten« schon als kleines Kind beschäftigt, vollkommen unbewusst natürlich, aber doch sehr früh. Mal auf gute, mal auf weniger gute Weise. Letztlich haben diese frühzeitigen Begegnungen mit der tschechischen Kultur meinen Blick auf das Land von Anfang an geprägt: In den Achtzigern sah ich Serien und Filme aus der Tschechoslowakei im Westfernsehen – natürlich »Drei Haselnüsse für Aschenbrödel«, selbstverständlich ebenso die Geschichten von Herrn Tau, der kraft seiner Fantasie und auf geradezu magische Weise schrumpfen konnte, wenn es ihm gefiel. »Pan Tau« war, obwohl mir der freundliche Herr in seinem makellosen Anzug durch seine Stummheit mitunter unheimlich war, eine Figur wie aus dem Paradies.

Direkt aus der Hölle hingegen kam für mich an einem Nachmittag vor dem Fernseher – ich war damals im Vorschulalter – die böse Frau Not, für mich die persönliche Gegenspielerin des guten Herrn Tau. Das filmische Puppenspiel »Paní Bída«, gedreht im Jahr 1983, hat mir damals tatsächlich ein veritables Trauma zugefügt. Das kreide ich natürlich eher meiner anfälligen Konstitution als der exzellenten Arbeit der Regisseurin Vlasta Pospíšilová an – oder anders, vielleicht hat mir dieser tschechoslowakische Alptraum in Puppenspielform deshalb jahrelange Angstzustände beschert, weil er so präzise ist in der Darstellung der Grausamkeit. »Frau Not« ist eine Geschichte, die ganz der Gesetzmäßigkeit sozialistischer Erziehung zu gehorchen scheint: Die Not kommt als alte Frau mit Kopftuch zur arglosen Familie eines Handwerkers, nachdem der König ihr keinen Einlass gewährt hatte. Sie lässt Mäuse aus ihren Schuhen, zerstört das Haus der Familie und wirft einen Galgen als Erinnerung in die Verwüstung hinein. Überall, wo sie auftaucht, hinterlässt sie Elend, Panik und Schrecken. Sogar den dicken, faulen und raffgierigen König treibt sie in den Tod. Aber gegen die Not, liebe Kinder, so die Moral des Films in den letzten Szenen der für ein Kind sehr langen Viertelstunde, ist ein Kraut gewachsen. Man muss nur fleißig sein. Als Frau Not nämlich zur Handwerksfamilie zurückkehrt und das gerade wieder hergerichtete Haus erneut ruinieren möchte, da werden ihr Werkzeuge gereicht&nbs