Kapitel 1
Die wahre Geschichte ist nicht halb so hübsch wie die, die man euch erzählt hat. Die wahre Geschichte geht so: Die Müllerstochter mit ihrem langen goldenen Haar will einen Adligen, einen Prinzen, zum Ehemann, den Sohn eines reichen Vaters. Also geht sie zum Geldverleiher und borgt sich genug von ihm, damit sie sich einen Ring und eine Halskette kaufen kann, um sich für das Fest auszustaffieren. Und sie ist schön genug, dass der Adlige, der Prinz, der Sohn eines reichen Vaters, auf sie aufmerksam wird und mit ihr tanzt. Und als der Tanz vorüber ist, lockt er sie in eine abgelegene Scheune. Danach kehrt er nach Hause zurück und heiratet die reiche Frau, die seine Familie für ihn ausgesucht hat. Die sitzen gelassene Müllerstochter erzählt jedem, dass der Geldverleiher mit dem Teufel im Bunde sei, und das Dorf jagt ihn davon oder steinigt ihn vielleicht sogar, sodass dem Mädchen zumindest der Schmuck als Mitgift bleibt. Und der Schmied heiratet sie, ehe das erste Kind ein wenig zu früh auf die Welt kommt.
Denn darum geht es in dieser Geschichte in Wahrheit: wie man es vermeidet, seine Schulden zu begleichen. Das wird normalerweise nicht erzählt. Ich aber weiß genau, wovon ich spreche. Mein Vater war nämlich ein Geldverleiher.
Er war nicht sehr gut darin. Wenn jemand seine Schulden nicht rechtzeitig beglich, dann erwähnte er es ihm gegenüber nicht einmal. Nur wenn unsere Schränke wirklich leer waren oder uns die Schuhe von den Füßen fielen, und wenn meine Mutter leise mit ihm sprach, nachdem wir zu Bett gegangen waren, dann machte er sich auf den Weg. Bedrückt brach er auf und klopfte an einige Türen, und es klang wie eine Entschuldigung, wenn er um einen Teil dessen bat, was man ihm noch zurückzugeben hatte. Wenn wir Geld im Haus hatten und jemand es leihen wollte, so hasste er es, ablehnen zu müssen, obwohl wir nicht mal genug für uns selbst hatten. Und so kam es, dass unser ganzes Geld, das zum größten Teil aus der Aussteuer meiner Mutter stammte, in den Häusern anderer Leute zu finden war. Allen anderen gefiel das gut, obschon sie wussten, dass sie sich schämen sollten, und so erzählten sie die Geschichte häufig, vor allem dann, wenn ich sie hören konnte.
Auch der Vater meiner Mutter war ein Geldverleiher, aber er war sehr erfolgreich in seinem Geschäft. Er lebte in Wisnja, vierzig Meilen die alte Handelsstraße mit den vielen Schlaglöchern hinunter, die sich von Dorf zu Dorf zog wie ein Seil voller kleiner, schmutziger Knoten. Mama nahm mich oft mit zu ihm, wenn sie ein paar Pfennige erübrigen konnte, damit wir hinten auf den Karren eines Hausierers oder auf einen Schlitten klettern konnten, der uns dorthin mitnahm. Unterwegs mussten wir uns oft fünf- oder sechsmal neue Mitfahrgelegenheiten suchen. Manchmal sahen wir kurz durch die Bäume hindurch die andere Straße, die den Staryk gehörte und die glänzte wie die Oberfläche des Flusses im Winter, wenn der Schnee davongeblasen worden war. »Sieh nicht hin, Mirjem«, pflegte meine Mutter zu sagen, aber ich spähte immer aus den Augenwinkeln und hoffte, sie nicht aus dem Blick zu verlieren. Doch wer auch immer den Wagen lenkte, trieb die Pferde an, bis die Straße wieder verschwunden war.
Einmal hörten wir Hufgetrappel hinter uns, das von der Straße der Staryk in den Wald wechselte, und es klang wie berstendes Eis. Unser Kutscher versetzte seinen Zugtieren einen raschen Schlag, um den Wagen hinter einen Baum zu lenken und dort zum Stehen zu bringen. Wir alle versteckten uns im Wagen zwischen den Säcken. Meine Mutter legte ihren Arm über meinen Kopf und drückte ihn nach unten, damit ich nicht in Versuchung geriet, doch einen Blick zu wagen. Sie ritten an uns vorbei, ohne haltzumachen. Wir saßen auf dem Karren eines