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DER MANN IM TRENCHCOAT mit Hut sieht aus wie einem alten Film entstiegen, nur ist sein Stock kein eleganter Gehstock, sondern eine gewöhnliche Krücke. Er steht vor der Liebenwalder 22 und beugt sich über das Straßenpflaster, als könne er in den buntgeäderten Steinen etwas erkennen. Der Regen war kurz und heftig, nun liegt wieder die Sommerhitze über den Straßen, das Wasser hat Plastiktüten, Papier, Zerbrochenes und Erbrochenes, auch den Hundedreck an die Ränder gespült, wo sich der Unrat staut. Die Granitpflastersteine schimmern jetzt feucht in allen Grautönen, mit rosa und bunten Adern.
Hinter dem Mann tritt ein jüngerer in die Tür, sieht den in seine Betrachtung versunkenen Alten, spricht ihn mit Mister Lehmann an und macht ihn auf Englisch darauf aufmerksam, dass die Stolpersteine aus Messing ein paar Meter weiter, vor der Nummer 16, zu finden seien. Denn die suche er doch sicher, da sei ein Judenhaus gewesen.
»Mit mir könnse Deutsch reden. Und ick suche keene Stolpersteine«, antwortet der andere.
»Ich dachte nur, weil Sie doch aus Israel …«
»Det warn hier außerdem allet Judenhäuser.«
Sein Berlinisch klingt wie aus einer anderen Zeit, er merkt es selbst. Heute redet man offenbar im Berliner Wedding anders Deutsch, durchsetzt mit schwäbischen und bayrischen Klängen, aber auch Türkisch, Englisch, Russisch, sogar Fetzen von Arabisch und Iwrith hat er gehört, als er gestern Abend ankam. Seine Enkelin Nira, die wenig Deutsch versteht, konnte sich mit dem Taxifahrer und den jungen Serviererinnen des Cafés an der Ecke mühelos verständigen. Sie zog auch noch los, nachdem sie vom Abendessen in ihre Hotelzimmer zurückgekommen waren, nach Kreuzberg wollte sie oder in den Prenzlauer Berg, ihre Freunde haben ihr die Namen von Cafés und Klubs aufgeschrieben, die sie unbedingt kennenlernen soll in den Wochen ihres Aufenthalts hier in dieser Stadt, aus der ihr Großvater kommt.
Jetzt, am Vormittag, schläft Nira noch und Leo Lehmann will ein paar Schritte gehen. Er hat nicht gewusst, dass Nira ausgerechnet im Wedding Hotelzimmer bestellte; als er hier wohnte, von seiner Geburt an immerhin knapp zwei Jahrzehnte, gab es in dieser Gegend keine Hotels. Aber Nira weiß gar nichts über den Wedding, das »Steps« hat sie im Internet gefunden, es warb mit seiner Lage in Berlin-Mitte, und die Zimmer waren billiger als anderswo. Den Wedding zählen die jetzt also zur Mitte Berlins. Und das Hotel »Steps« war früher ein normales Mietshaus, mit falschen Säulen und Simsen an der mit Klinkern verblendeten Fassade. Dass das noch erhalten ist. Leo kam hier jeden Tag auf seinem Schulweg vorbei. Eine hölzerne Gedenktafel hing damals neben der Tür, weil hier, in der Liebenwalder 22, Walter Wagnitz gewohnt hatte. Zu Tode gekommen ist er ja in der Utrechter.
Als sie gestern aus dem Taxi stiegen, erkannte Leo sofort alles, die Straße, das Haus. Das Café »Schraders« an der Ecke war die Eckkneipe von Heinrich Reim gewesen, in der Leos Vater manchmal ein Bier getrunken hatte, als Leo noch ein kleiner Junge war. Später dann nicht mehr. Ein Zufall, dass Nira ausgerechnet hier gebucht hat. Dabei war diese Gegend eine Trümmerlandschaft, als er sie zum letzten Mal sah. Sie haben manches neu gebaut und die alten Häuser wieder zusammengeflickt, die Löcher zugeschmiert, die Fassaden verputzt, das können sie ja gut, die Deutschen.
So denkt Leo Lehmann und bleibt in seinen eigenen Gedanken hängen. Ist er nicht selbst ein Deutscher? Ein deutscher Jude. Wie das klingt. Wie ein Opfer. Er ist Israeli, das hört sich schon besser an. Aber Berliner ist er eben doch.
Hier links war eine Flohkiste, Thalia-Lichtspiele, die sieht er noch vor sich, obwohl jetzt ein ganz anderes Haus hinter einem Kinderspielplatz steht. Der alte Mann weiß noch, durch welche Seitentür er ohne Bezahlung in das Kino kam, wenn er Glück und der Filmvorführer sie nicht abgeschlossen hatte. Mehr a