2. KAPITEL
Die wunderschöne Wüstenlandschaft raubte Julia immer noch jedes Mal den Atem. Fasziniert beobachtete sie, wie der leuchtend orangerote Himmel in ein blasses Dunkelblau überging, als ob die Sonne bei ihrem raschen Untergang am Horizont einen Bühnenvorhang hinter sich herzog. Die wenigen Schäfchenwolken verfärbten sich in ein allmählich dunkler werdendes Grau und wurden von der sich ausdehnenden Schwärze schließlich gänzlich verdeckt. Die funkelnden Sterne schienen Julia zum Greifen nah zu sein, und der Mond leuchtete buttergelb über ihr. In seinem Schein hoben sich die Umrisse der Dünen scharf in der düsteren Landschaft ab, manche erstreckten sich sanft herabfallend ins Tal, andere ragten wie steile Klippen empor. Auch die Luft veränderte sich, von trocken und staubig zu weich und salzig. Tief atmete sie ein und hob das Gesicht zum Himmel, genoss die sanfte Brise, die leicht durch die Palmen der Oase strich.
Den Falken sah sie zuerst. Von Hanif wusste sie, dass er ein wichtiger Begleiter für jeden Wüstenreisenden war. Wie aus dem Nichts stürzte er vom Himmel herab und ließ sich auf dem Sattel des Kamels nieder. Gleich darauf tauchte Azhar aus der Dunkelheit auf, den schlanken Saluki auf den Fersen. Erneut war sie von seiner gebieterischen Ausstrahlung beeindruckt, wobei er nicht arrogant wirkte. Vielmehr schien er sich in seiner Umgebung sichtlich wohlzufühlen. Ein klein wenig einschüchternd fand sie ihn dennoch. Aber auch umwerfend attraktiv.
Umwerfend? War das das richtige Wort? Sie war sich nicht sicher, ob es überhaupt ein Wort dafür gab, gleichwohl zu faszinieren wie auch zu provozieren. Nein, provokant war er nicht, eher … gebieterisch. Ein Mann mit unwiderstehlicher Ausstrahlung, der jedoch selbst nicht leicht zu beeindrucken war. Unnahbar – war das der treffende Ausdruck? Nein, sie verhielt sich albern. Dennoch war Azhar unleugbar ein aufsehenerregender Mann, nach dem sich jede Frau umgedreht hätte. Julia juckte es abermals in den Fingern, seine Züge zu malen, den sinnlichen Schwung seines Mundes. Ja, es war sein Mund, mehr noch als sein gutes Aussehen oder sein gestählter Körper, der den Wunsch nach flammenden Küssen in ihr weckte. Auch wenn sie keine Vorstellung davon hatte, wie sich ein flammender Kuss anfühlte. Sie hegte jedoch keinen Zweifel daran, dass Azhar sich darauf verstand. Seltsam, dass sie sich dessen so sicher war. Noch seltsamer aber war, dass allein sein Anblick ein heißes Kribbeln in ihr auslöste und höchst unziemliche Gedanken in ihrem Kopf kreisen ließ.
Offenbar hatten die flirrende Hitze und die urtümliche, fast magische Schönheit der Wüste ihr den Verstand benebelt. Als sie beobachtete, wie Azhar einige Sachen aus den Satteltaschen der Maultiere nahm, kam es ihr so vor, als wären sie die einzigen Menschen auf der Welt, so weit von Cornwall und dem Leben, das sie kannte, entfernt, wie nur möglich. Sie konnte ein Niemand oder ein Jemand sein. Sie konnte wilde, seltsame Fantasien haben, sie sogar ausleben, und niemand würde je davon erfahren.
Nicht dass sie das wagen würde. Schon einmal hatte sie so empfunden, damals in Südamerika. Obwohl sie verheiratet waren und ganz allein, war Daniel bis ins Mark erschüttert gewesen, als sie ihn leidenschaftlich geküsst und ihm vorgeschlagen hatte, sich unter dem Sternenhimmel zu lieben. Als Azhar sich ihr näherte, errötete sie beim Gedanken an die Erinnerung und verbannte jegliche Unschicklichkeit aus ihrem Kopf.
„Sie haben sich also entschlossen, mir beim Essen Gesellschaft zu leisten“, sagte er.
Julia setzte ein strahlendes Lächeln auf. „Wenn es genug für zwei gibt, dann gerne.“
„Können Sie ein Feuer in Gang bringen? Meine erlegte Beute kocht sich nicht von allein.“
Ihr Lächeln erstarb. Es stimmte, statt zu träumen, hätte sie sich lieber nützlich machen sollen. Das hieß jedoch noch lange nicht, dass sie sich ihr Versäumnis vorhalten lassen wollte. „Ich kann ein Feuer in Gang bringen“, erwiderte sie schroff. „Ich kann das Kaninchen, das Sie da haben, auch abziehen und sogar kochen. Geben Sie her.“
Die Bitte klang unabsichtlich wie ein Befehl. Azhars Miene wurde herablassend. Wie machte er das nur, bloß mit einem Heben der Augenbrauen? Ein kaltes Funkeln stand in seinen Augen. „Das ist kein Kaninchen, sondern ein Hase.“
Und ja, wieder einmal hatte er recht. „Dann ist der aber ziemlich klein“, entgegnete Julia. „In England sind sie doppelt so groß.“
Er zog seinen Dolch aus dem Gürtel und machte sich mit geschickten Händen daran, ihr Abendessen zu häuten. „Wir sind in Arabien, nicht in England. Der Hase lebt hier in einer kargen Umgebung.“
Sein Falke, der reglos im Sattel saß, beobachtete die Szene mit hoffnungsvollem Blick in den Knopfaugen. „Ich gehöre nicht zu diesen arroganten Leuten, die nur durch die Welt reisen, um zu beweisen, dass England allen anderen Nationen überlegen ist, falls Sie das denken.“
Azhar lächelte leicht – sehr leicht – aber es war dennoch ein Lächeln. Julia betrachtete das als Fortschritt. „Ich war noch nie in England“, sagte er. „Es soll grün und blühend sein