Jg. Handwerksges. su. Brieffr. i. aller Welt.
Chiffre J5403
Ach Mensch, wir sind bisher so gut durchgekommen.« Heike seufzte und hatte sofort wieder eine schuldbewusste Miene. Als ob sie etwas dafürkönnte, dass sich der Verkehr auf dem Übergang zur Rügenbrücke staute. Damit musste man in der Hochsaison rechnen. Von der Rückbank kam ein Stöhnen. Rahel, natürlich. Emily, die jüngste von ihnen, hatte wahrscheinlich noch nicht einmal wahrgenommen, dass sie nicht mehr fuhren. Sie schottete sich ab mit ihren großen Kopfhörern auf den Ohren und dem Mobiltelefon, ihrem Schatz, den sie nur selten aus den Augen ließ. Ursula musste über ihre Urenkelin schmunzeln. Sie hatte wirklich gerade eine schwierige Phase. Die hübschen hellblauen Augen umrandete sie mit dicken schwarzen Strichen, in ihrer niedlichen Stupsnase und im Bauchnabel, den sie gern präsentierte, steckten Metallringe. Das hätte Ursula ihr niemals erlaubt, für Rahel war es wohl eine gute Gelegenheit, ihren permanenten Zeitmangel auszugleichen. Emily malte sich ihre Finger- und Fußnägel blau oder neongelb an, ihre Kleidung war eigentlich immer schwarz, und die Jeans hatten Löcher.
»O Mann, Ur-Usch«, hatte sie mal gesagt und mit den Augen gerollt, »das gehört so!«
Die Kleine war in einer Trotzphase, daran gab es keinen Zweifel. Aber musste ihre Mutter sie deshalb manchmal Enemy nennen, Feind? Irgendwie gut, fand Ursula, dass sie nicht so angepasst war. Ein bisschen mehr Rebellion hätte ihrem eigenen Leben auch gutgetan. Und dem ihrer Tochter Heike sowieso, die war eindeutig zu brav und mausgrau.
»Ich werde noch in hundert Jahren nicht verstehen, warum wir unbedingt mit deinem ollen Passat Kombi aus Bad Bevensen starten mussten.« Das betonte Rahel nicht zum ersten Mal an diesem Tag.
»Meinst du, mit deinem flotten BMW wären wir im Stau schneller gewesen?« Ursula drehte sich zu ihr um. Rahel hatte mit ihrer Tochter mehr gemeinsam, als sie sich vermutlich eingestehen würde. Auch sie war blass, ihr Gesicht schmal. Auch sie betonte ihre Augen sehr auffällig, wenngleich eleganter. Ihre Lippen hatten die Farbe von Klatschmohn, der Nagellack passte exakt dazu. Wie schaffte sie es nur, die Farben entsprechend den Anlässen oder vielleicht auch ihrer jeweiligen Stimmung zu wechseln? Und zwar auch die des Lackes! Ursula wäre ihre Zeit dafür zu schade. Vielleicht auch deshalb, weil sie nicht mehr so viel davon hatte wie die anderen in diesem Auto. Jedenfalls, wenn die Natur sich nicht noch mit einer von ihnen einen bösen Witz erlaubte.
Rahel ging nicht auf Ursulas Einwand ein. »Wenn Emily und ich in einem Rutsch gefahren wären, hätten wir uns die Übernachtung in Bad Bevensen sparen können und würden schon am Strand liegen. Oder so.« Wie sie Bad Bevensen betonte. Als wäre es unter ihrer Würde, den Namen einer Ortschaft mit weniger als einer Million Einwohnern überhaupt in den Mund zu nehmen. Dass es immerhin ihr Geburtsort war, hatte sie anscheinend vergessen. Heike hatte sich damals für eine Hausgeburt entschieden, weshalb Bad Bevensen nun eben in Rahels Pass eingetragen war.
»Wir haben Urlaub, Kind, das heißt, wir haben Zeit. Es spielt doch keine Rolle, ob wir eine halbe Stunde eher oder später da sind.« Nach Urlaub sah Rahel keinesfalls aus in ihrem silbergrauen Bleistiftrock und passendem Blazer über der weißen Bluse. Wenigstens hatte sie den ausgezogen. War sonst ja nicht auszuhalten in dem stickigen Auto. »Du weißt bestimmt schon gar nicht mehr, wie Freizeit sich anfühlt, was? Immer nur Arbeit, das ist doch nichts.« Rahel holte hörbar Luft. »Ich freue mich deshalb umso mehr, dass du dir die Tage freigenommen hast, um mit uns nach Rügen zu fahren.« Ursula drehte sich noch einmal kurz nach hinten um und strahlte ihre Enkelin an. Die sichere Method