Alleinerziehende Mutter,
Schlüsselkind
»Marissa.«
Erstes Anzeichen, dass etwas nicht stimmt: kein Licht in der Wohnung.
Zweites: zu still.
»Marissa, Mäuschen …?«
Da war er bereits, der erste Anflug von Panik in ihrer Stimme. Da war es bereits, das Gefühl, als schließe sich ein eiserner Ring um ihre Brust.
Sie betrat die dunkle Wohnung. Um 20 Uhr. Spätestens. Das sollte sie später beschwören.
In einem traumähnlichen Zustand bar aller Gefühle schloss sie die Tür hinter sich, knipste ein Licht an. War sich ihrer bewusst wie jemand, der sich in einem Video selbst sieht, wie er sich auffällig normal verhält, obwohl die Umstände sich verändert haben und nicht normal sind.
Eine Mutter lernt, nicht in Panik zu verfallen, sich keine Schwäche anmerken zu lassen. Falls ein Kind sie beobachten sollte.
»Marissa? Bist du nicht … bist duzu Hause?«
Wäre Marissa zu Hause, wären die Lampen an. Marissa würde im Wohnzimmer Hausaufgaben machen, hätte den Fernseher an, laut. Oder den CD-Spieler, laut. War Marissa alleine zu Hause, fühlte sie sich unwohl, wenn es ganz still war.
Die Stille mache sie nervös, sagte sie. Dann müsse sie an Dinge denken, die ihr Angst machten, sagte sie. Ans Sterben zum Beispiel. Dann höre sie ihren eigenen Herzschlag, sagte sie.
Aber es war still in der Wohnung. Still in der Küche.
Leah knipste noch mehr Lichter an. Noch beobachtete sie sich selbst, noch nahm sie sich zusammen. Sah vom Wohnzimmer aus, über den Flur hinweg, dass die Tür zu Marissas Zimmer offen stand, Dunkelheit dahinter.
Es war möglich – ja!, wenn auch nur einen verschwommenen, verzweifelten Moment lang – zu denken, dass Marissa auf ihrem Bett eingeschlafen war, und deshalb … Doch Leah sah nach, da lag keine schmale Gestalt auf dem Bett.
Niemand im Bad. Tür angelehnt, Dunkelheit dahinter.
Irgendwie wirkte die Wohnung nicht vertraut. Als ob Möbel umgestellt worden wären. (Was nicht der Fall war, wie sie sich später vergewissern sollte.) Es war eisig, zugig, als wäre ein Fenster offen gelassen worden. (Kein Fenster war offen gelassen worden.)
»Marissa?Marissa?«
Ungläubigkeit und Beinahe-Ärger schwangen in der Stimme der Mutter mit. So, als solle Marissa, wenn sie sie hörte, nur einen leisen Tadel heraushören.
In der Küche, auch sie leer, stellte Leah die eingekauften Lebensmittel ab. Auf einen Unterschrank. Passte nicht auf, die Tasche sackte langsam zur Seite. Leah nahm kaum Notiz. Ein Joghurtbecher fiel heraus.
Marissas Lieblingsjoghurt, Erdbeer.
So still! Die Mutter, die allmählich fröstelte, verstand, warum die Tochter die Stille hasste.
Sie lief die Zimmer ab, sollte immer wieder die wenigen Zimmer der kleinen Erdgeschosswohnung ablaufen, und rief mit dünner, wie ein gespannter Draht aufsirrender StimmeMarissa? Mäuschen? Sie verlor das Zeitgefühl. Sie war die Mutter, sie war verantwortlich. Elf Jahre lang hatte sie ihr Kind nicht verloren, der Albtraum aller Mütter, ihr Kind zu verlieren, ein jäher körperlicher Verlust, ein Diebstahl, ein Weg-Stehlen, einegewaltsame Entführung.
»Nein. Sie ist hier. Irgendwo …«
Die Wohnung ablaufen, immer denselben Weg. Es gab doch nur so wenige Zimmer, in denen Marissa sein konnte! Wieder die Badezimmertür öffnen, weiter diesmal. Eine Schranktür. Schranktüren. Taumeln gegen … Die Schulter angeschlagen an … Gegen Marissas Schreibtischstuhl gelaufen, ein Stechen im Oberschenkel. »Marissa?Versteckst du dich?«
Als ob Marissa sich verstecken würde. In so einem Moment.
Marissa war elf. Es war schon sehr lange her, seit Marissa sich zum letzten Mal kichernd und quietschend vor ihrer Mutter versteckt hatte. Damit Mommy nach ihr suchte.
Sie sei keine Mutter, die ihr Kind vernachlässige, würde sie beteuern.
Eine berufstätige Mutter war sie. Eine alleinerziehende Mutter. Der Vater ihrer Tochter war aus dem Leben von Mutter und Toc