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Obwohl der Wecker mich schon dreimal ermahnt hatte aufzustehen, rührte ich mich nicht. Sonnenlicht flirrte durchs Fenster, und die Vögel sangen von einem wundervollen Tag.
Mir egal.
Ich lag im Bett und starrte mit versteinerter Miene auf meinen unberingten Finger. Da war kein Abdruck, nicht einmal ein Streifen blasser Haut – rein gar nichts wies darauf hin, dass dort wochenlang ein Ring gesteckt hatte. Tag und Nacht hatte ich ihn getragen. Und nun war er fort. Es gab keine Spurenan mir – und irgendwie auch nichtin mir. Ich fühlte mich nur schrecklich leer. Wie gelähmt.
(Schmuckmagieentzugserscheinung?)
Es war unmöglich, aufzustehen.
Absolut undenkbar, in die Schule zu gehen!
Die Blicke der anderen … Sie hatten bestimmt Noahs Ausraster mitbekommen. Sicher waren wir Gesprächsthema Nummer eins. Und allein die Vorstellung, Noah gegenüberzutreten, ließ mich erstarren.
Ein viertes Mal dudelte der Wecker los. Kaum hatte ich ihn zum Schweigen gebracht, rief Mom: »Julie? Wo bleibst du? Beeil dich!«
»Ja!«, brüllte ich zurück und zog mir die Bettdecke über den Kopf. Wenn ich mich nicht bewegte, würde dieser Tag mich vergessen. Mit etwas Glück würde sogar mein Leben mich vergessen.
Ob Noah mich über Nacht vergessen hatte?
»Julie?« Mom riss die Tür auf. »Du hast keine Zeit mehr fürs Frühstück. Ich hab dir was eingepackt.«
Danke, Mom.
Wie oft war sie um diese Zeit schon in ihre Arbeit vergraben? Oder los zu einem Kundengespräch – aber heute natürlich nicht. Ausgerechnet heute gab es kein Entrinnen vor ihrer mütterlichen Kontrolle.
»Los jetzt«, sagte sie gehetzt. »Raus aus den Federn. Ab in die Schule.« Schwungvoll wollte sie mir die Decke wegziehen, doch ich war vorbereitet und krallte mich eisern daran fest. Mom hatte keine Chance.
»Julie!«, zischte sie sauer. »Sei nicht albern.«
»Ich bin krank!« Mit Armen und Beinen umschlang ich die schützende Decke.
»Krank sieht anders aus.« Sie überraschte mich mit einem flinken, aber dennoch kräftigen Ausfallschritt, und ich saß – wenn auch in meine Decke gekuschelt – auf dem Boden. »Siehst du. Geht doch. Jetzt, wo du es aus dem Bett geschafft hast, kannst du auch zur Schule.« Sie schenkte mir ein pseudo-liebes Lächeln und huschte wieder nach unten, während ich mich frustriert aus der Decke kämpfte. Sie hatte gewonnen.
Als ich auf den Schulhof bog, trieb eine angenehme Brise Dünensand zu den Fahrradständern. Es hatte sich bereits eine kleine Sandwehe an der Schuppenwand gesammelt. (Der Schulhausmeister freute sich sicherlich schon auf diese Sisyphusarbeit.) Für die nächsten Tage war bestes Sommerwetter angekündigt, und die Schüler um mich herum strotzten alle vor guter Laune. Mir jedoch erschien das Schulgebäude trotz Sonnenschein heute besonders abweisend und düster. So wie eigentlich der ganze Tag.
Hastig schloss ich mein Rad an und versuchte, mich ungesehen ins Gebäude zu schleichen. Bloß keinen Kontakt zu diesen fröhlichen Menschen mit ihren fröhlichen Leben.
»Juuuliiieee!«, brüllte es hinter mir. (Ungesehen hatte sich damit schon mal erledigt.) Merle kam wild winkend zu mir gerannt.
»Wie geht es dir?«, fragte sie und musterte mich skeptisch von Kopf bis Fuß. »Meine Güte! Ist es so schlimm? Tut es weh? Du siehst irgendwie krank aus!«
»Sag das Mom. Sie findet mich fit genug für die Schule.«
»Hat sie dich angeguckt? Du bist doch dreimal durch den Wolf gedreht und ausgespuckt worden.«
»Vielen Dank auch.« Genau diese Worte hatten noch gefehlt, um mich für den Schultag zu motivieren. Unsicher sah ich mich um und fing den einen oder anderen fragenden Blick auf. »Ist der Gossip-Alarm schon losgegangen? Noah und