1. KAPITEL
Brighton Valley in Texas war der letzte Ort auf Erden, in den Joe Wilcox je wieder einen Fuß setzen wollte. Er hatte jedoch versprochen, einen Brief für einen Freund abzuliefern, und eines konnte man mit absoluter Sicherheit über ihn sagen: Er hielt stets Wort.
Also packte er im Militärstützpunkt Camp Pendelton ein paar Habseligkeiten, nahm sich einen Mietwagen und verließ Kalifornien. In El Paso legte er einen Zwischenstopp ein und setzte die Fahrt am nächsten Morgen fort.
Neunhundert Meilen später traf er erschöpft und hungrig in Brighton Valley ein und checkte in ein billiges, aber sauberes Motel namensNight Owl ein. Sobald er sein Zimmer betrat, verstaute er seine zwei Seesäcke unter dem Bett, denn der Kleiderschrank war für ihn ein unsicherer Ort, seit er als Kind seine Wertgegenstände vor seinem Onkel versteckt hatte, dem häufig das Geld für Zigaretten oder Whisky ausgegangen war.
Eigentlich hatte Joe diese Gewohnheit schon vor Jahren abgelegt, doch die Rückkehr in die Kleinstadt rief seltsame Erinnerungen wach und brachte ihn ein wenig aus dem Gleichgewicht.
Als Nächstes nahm er eine lange heiße Dusche, schlüpfte in bequeme, abgetragene Jeans und ein schwarzes Sweatshirt, und machte sich auf den Weg zum Stagecoach Inn auf der anderen Seite des Highways.
Trotz der jahreszeitlich bedingten Kälte, die in der Luft lag, hätte ihm ein kühles Blondes gut gemundet, aber Drinks oder Zerstreuung standen nicht auf seiner Agenda. Er hatte eine Mission zu erfüllen. Er musste einer kaltherzigen Kellnerin namens Chloe Dawson einen Brief von Dave Cummings übergeben, dem sie das Herz gebrochen hatte.
Als Joe am Straßenrand auf eine Lücke im dichten Verkehr wartete, zog er das Foto von Chloe heraus und musterte es im Licht der Straßenlaternen. Der grobkörnige Schnappschuss ließ platinblonde lange Locken und eine umwerfende Figur erkennen.
Während der Stationierung in Afghanistan hatte Dave von nichts anderem als von dieser Frau und seinen Träumen für eine gemeinsame Zukunft mit ihr gesprochen. Als Einzelkind bei liebevollen Eltern aufgewachsen, hatte er sich ein ähnlich glückliches Leben für sich selbst erhofft.
Joe hatte ihn ein wenig beneidet. Denn er selbst hatte keine Angehörigen – zumindest keine, an denen ihm etwas lag – und sich folglich nie ein idyllisches Familienleben auszumalen gewagt.
Es war ihm ein Rätsel, was eine attraktive Frau wie Chloe an einem großherzigen, aber naiven verwöhnten Weichling wie Dave finden mochte.
Sensibel wie er war, hatte Dave der unerwartete Tod seines Vaters schwer getroffen. Dass bei seiner Mutter neun Monate später Krebs diagnostiziert worden war, hatte ihn völlig am Boden zerstört.
Offensichtlich hatte diese Chloe seinen angegriffenen, verletzlichen Zustand zu ihren Gunsten zu nutzen verstanden. Sie hatte sich bei seiner verwitweten Mutter auf der Ranch eingenistet, und er hatte sich bei seinem nächsten Heimaturlaub im letzten Sommer Hals über Kopf in sie verliebt.
Als Mrs. Cummings ihrem Leiden erlegen war, hatte Chloe versprochen, sich um die Ranch zu kümmern und auf Daves Heimkehr zu warten. Im Gegenzug hatte er ihr das Blaue vom Himmel verhießen.
Allein der Traum, sie gleich nach Beendigung seines Auslandseinsatzes zu heiraten und mit ihr eine Schar Kinder aufzuziehen, hatte ihn aufrecht gehalten. Sie hingegen erträumte sich ein ganz anderes Leben, eines ohne Dave. Und das Schicksal hatte ihr diesen Wunsch erfüllt.
Endlich gelang es Joe, die Straße zu überqueren. Seine Stiefel knirschten auf dem Kies, als er über den Parkplatz zum Eingang des Stagecoach Inn ging, dessen Schaufenster mit bunt blinkender Weihnachtsbeleuchtung lockte.
Soweit er wusste, kellnerte Chloe in der Spelunke. Und Dave hatte nächtelang in den vom Krieg erschütterten Wüsten von Afghanistan wach gelegen und sich gesorgt, dass irgendein ungehobelter Cowboy sie abschleppen könnte.
Ist