2. KAPITEL
Ein Skandalblatt herauszugeben war nichts für Zartbesaitete. Es erforderte einen scharfen Verstand, ein unsentimentales Herz und eine dicke Haut. Die Familie Deverill und die passionierten Leser von „Society Snippets“ konnten von Glück sagen, dass Irene Deverill alle drei Eigenschaften besaß. Zudem war sie mit einem Sinn für Humor ausgestattet, und es gab Tage, da dieser Wesenszug wichtiger als alle übrigen war. So wie heute.
„Mr. Shaw“, begann sie zum dritten Mal in der Hoffnung, sich gegen den wütenden Wortschwall des aufgebrachten älteren Herrn durchzusetzen, der vor ihrem Schreibtisch saß. „Ich verstehe Ihre Besorgnis, aber …“
„Die ‚Weekly Gazette‘“, spie er, den ursprünglichen Namen der Publikation verwendend, „das war noch eine Zeitung, junge Frau. Ihr Zweck bestand darin, die Öffentlichkeit über seriöse und bedeutsame Ereignisse in Ost- und Zentrallondon zu informieren. Und nun? Nun ist sie dank Ihnen zu einem … einem Revolverblatt voller Skandale und Pikanterien verkommen.“
Irene unterdrückte ein Lächeln, während sie die schmalen Lippen ihres Gegenübers betrachtete. Ein wenig Pikanterie wäre Ebenezer Shaw gewiss zuträglicher als die Leberpillen, die sein Unternehmen vertrieb, aber das behielt sie besser für sich. „Mir ist bewusst, dass die Veränderungen, die ich vorgenommen habe, etwas gewöhnungsbedürftig sind …“
„Gewöhnungsbedürftig?“ Mr. Shaw klatschte sein Exemplar der gestrigen Ausgabe auf den Schreibtisch. „Klatschkolumnen, die neueste Mode, Ratschläge bei Liebeskummer … Was kommt als Nächstes? Berichte über Englands Spukhäuser sowie ein Wochenhoroskop?“
Sogleich stand Irene eine Serie über Englands gruseligste Orte vor Augen – über das Jamaica Inn vielleicht, über Berry Pomeroy Castle, über den Tower of London …
Sie schaute an Mr. Shaw vorbei zu ihrer Schwester Clara, die mit einem Klemmbrett in der Hand bei der Tür saß. Clara, die als ihre Sekretärin fungierte, verstand den Blick und machte sich rasch eine Notiz. Irene zwang sich, nicht länger in zukünftigen Ausgaben von „Society Snippets“ zu schwelgen, sondern ihre Aufmerksamkeit wieder auf einen weniger erhebenden Aspekt ihres Metiers zu richten: erzürnte Anzeigenkunden zu besänftigen.
„Die Zeitung ist vielleicht nicht mehr die, in der Sie vor zwanzig Jahren begonnen haben, Anzeigen zu schalten“, sagte sie in möglichst begütigendem Ton, „und der Inhalt mag nicht länger Ihrem Geschmack entsprechen. Oder meinem“, fügte sie hastig hinzu, als er neuerlich ansetzte, seine diesbezügliche Meinung kundzutun. „Aber keiner von uns beiden kann bestreiten, dass die Anpassungen sich ausgezahlt haben. Die Auflagenhöhe ist um dreihundert