1. KAPITEL
Der Wind spielte mit Carlottas langen kastanienbraunen Haaren, als sie sich über die Reling lehnte, um den fantastischen Blick auf den hohen schlanken Campanile und den Dogenpalast zu genießen. Wie an jedem Tag, an dem sie mit dem Vaporetto von der Insel Giudecca nach San Marco übersetzte, konnte sie es kaum fassen, dass sie jetzt inmitten all dieser historischen Pracht und Schönheit lebte.
Sie war erst vor ein paar Monaten von Amerika hierher nach Venedig gezogen und hatte sich Hals über Kopf in die wunderschöne Stadt an der Lagune, deren poetischen Beinamen „Serenissima“ sie besonders mochte, verliebt. Obwohl sie sich anfangs dagegen gewehrt hatte. Zu viele Probleme waren mit Italien verbunden. Dennoch sollte ausgerechnet hier ihre Zukunft liegen. Das hatte sie ihrer Tante Rosalie an deren Sterbebett versprechen müssen. Rosalie hatte sie nach dem frühen Tod ihrer leiblichen Eltern aufgezogen, und Carlotta hatte sie geliebt wie eine Mutter.
Trotz ihrer Vorbehalte hatte Venedig sie auf Anhieb in ihren Bann gezogen. Jeden Tag überraschte die Lagunenstadt sie aufs Neue. Obwohl Carlotta die Sprache perfekt beherrschte, war ihr dennoch vieles immer noch fremd. Nicht nur der Singsang des venezianischen Dialekts, sondern auch die Mentalität der Menschen. Sie war durch und durch Amerikanerin, aber die Vorfahren ihres Vaters und seiner Schwester Rosalie stammten ursprünglich aus Venezien. Wenn sie sich jedoch vergegenwärtigte, was ihre Tante ihr kurz vor dem Tod eröffnet hatte, stieg jedes Mal Wut über die Ungerechtigkeit in ihr auf. Sobald sie daran dachte, wie ihre Familie betrogen worden war, ballte sie unwillkürlich die Hände zu Fäusten. Und ihr wurde angst und bange, da es jetzt an ihr lag, dafür zu sorgen, dass endlich späte Gerechtigkeit hergestellt wurde. Allerdings hatte Carlotta noch immer keine Ahnung, wie sie das anstellen sollte. Zunächst hatte sie auch genug damit zu tun, sich in ihrem neuen Job und dieser ihr fremden Welt zurechtzufinden.
Hier in Venedig ging es sehr viel lauter und temperamentvoller zu, als sie es aus Wakefield in Massachusetts gewohnt war. Tief in ihrem Herzen vermisste sie die kleine Stadt am Crystal Lake immer noch, in der sie einst ihrer Tante Rosalie das Versprechen gegeben hatte.
Um es einzuhalten, hatte sie ihren tollen Job in einem New Yorker Nobelhotel aufgeben müssen. Trotzdem hatte sie keinen Moment lang gezögert, als sie das ersehnte Angebot bekam, als Assistentin der Geschäftsleitung im Hotel Danello zu arbeiten.
Die italienische Personalchefin, mit der sie früher in einem Hotel in Boston zusammengearbeitet hatte, hatte sich an sie erinnert und ihr die Stelle angeboten. Carlotta hatte die Gelegenheit ergriffen, ihr kleines Apartment gekündigt, ihre wenigen Habseligkeiten verkauft und Amerika hinter sich gelassen, um sich mutig in das Abenteuer Italien zu stürzen. So kam sie der Einlösung des Versprechens, späte Gerechtigkeit für ihre Familie wiederherzustellen, endlich einen großen Schritt näher. Zumindest hoffte sie das.
Als der Wasserbus nach der kurzen Fahrt über den Canal Grande an der Haltestelle San Marco Zaccaria festmachte und Carlotta sich mit all den anderen Fahrgästen über den leicht schwankenden Anleger vom Vaporetto an Land drängte, schlug ihr die sommerliche Hitze entgegen. Sie beneidete die Touristen, die in Shorts und luftigen T-Shirts die Stadt erkundeten. Sie selber trug ein dunkelblaues Businesskostüm, Nylonstrümpfe und ihre bequemen Sneakers. Die hohen Pumps, die sie während der Arbeit anzog, standen an ihrem Schreibtisch bereit. Im Danello wurde bei den Angestellten großer Wert auf ein gepflegtes Outfit gelegt.
Carlotta betrat das Hotel durch den seitlichen Personaleingang und lief die Stufen zum zweiten Stock hinauf. Sie war froh, dass ihr Chef noch nicht da war, als sie in ihr Büro gleich neben seinem huschte.
Sosehr sie ihren Job liebte, so sehr litt sie unter ihrem Vorgesetzten. Obwohl sie fachlich kompetent war und sich Mühe gab, besonders freundlich zu Mario Visconti zu sein, konnte sie ihm einfach nichts recht machen.
Ständig kritisierte er sie und ihre Arbeit, hatte immer etwas auszusetzen und ließ keine Gelegenheit aus, ihr das Leben schwer zu machen. Carlotta wusste, dass er sie am liebsten möglichst schnell wieder loswerden würde. Ihre Tante Rosalie hatte sie vor ihm und seiner Familie gewarnt.
Die Personalchefin vermutete, dass der Geschäftsführer sauer war, weil seine neue Assistentin über seinen Kopf hinweg eingestellt worden war – anstelle seiner unfähigen Cousine, die er sich für den Job gewünscht hatte. Carlotta dagegen befürchtete, dass Mario Visconti ahnte, wer sie wirklich war. Sie durfte sich nicht anmerken lassen, dass sie sein Geheimnis kannte, bis sie die fehlenden Beweise gefund