: Alfons Reckermann
: Überzeugen Rhetorik und politische Ethik in der Antike
: Felix Meiner Verlag
: 9783787335824
: Blaue Reihe
: 1
: CHF 6.10
:
: Antike
: German
: 342
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
In diesem Buch geht es um den Beitrag, den die antike Rhetorik zum normativen Selbstverständnis der Polis und zur politischen Ethik ihrer Zeit leistete. Anders als im neuzeitlichen Kontraktualismus gilt für die antike Ethik die überzeugende Rede als einzige Kraft, die bei besonnenem »Gebrauch« individuelles und kollektives Handeln auf gegenseitige Verständigung einzustellen und durch die Begründung einer rechtlichen Ordnung den Naturzustand roher Gewalt zu überwinden vermag. In Absetzung von der Sophistik profiliert sich die Rhetorik als Alternative insbesondere zur platonischen, jedoch auch zur aristotelischen Philosophie. Der Autor behandelt u.a. die Polis-Ethik des Isokrates, ihre Vorformen bei Solon und Aischylos sowie ihre Parallele bei Xenophon. Herodot, Thukydides und Aristoteles verdeutlichen darüber hinaus Probleme ihrer »Implementierung« und zeigen, dass ihrer Wirkungsmöglichkeit durchaus auch Grenzen gesetzt sind. Dabei geht es um die sozialen Folgen von Gewalt und Überzeugungskraft, das Verhältnis von Verfassungsordnung und Außenpolitik sowie die Herstellung von »Bürgerfreundschaft « als Voraussetzung einer erfolgreichen Verbindung von Macht und Recht. Dank ihrer Verzahnung von Individual- und Institutionenethik und ihrer Kritik an Versuchen, politische Verhältnisse auf der Grundlage eines epistemisch begründeten Gerechtigkeitswissens in der Orientierung an transpolitischen Normen zu gestalten, ist die rhetorisch fundierte Ethik für ein modernes Verständnis demokratischer Politik, die auf öffentliche Rede und eine belastungsfähige Streitkultur angewiesen ist, von Bedeutung.

Alfons Reckermann (* 8. April 1947 in Münster (Westfalen)) ist ein deutscher Philosoph und Hochschullehrer. Reckermann unterrichtet an der Ludwig-Maximilians-Universitä München (LMU München), wo er seit 1988 eine Professur für Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Sozialphilosophie innehat. Reckermann studierte an der Universität Münster und an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Philosophie, Geschichte, Germanistik und Soziologie. Den Dr. phil. erwarb er 1976 an der Universität Freiburg und habilitierte sich 1986 für das Fach Philosophie an der LMU München.

I. Das Problem: Von der Stasis zur Polis


Die Stimme Athenes
DieErzeugungder Polis als Ort des guten Zusammenlebens von Göttern und Menschen in derOrestiedes Aischylos


Für Aristoteles ist diepolitischedie beste menschliche Gemeinschaft, weil alle Mitglieder an ihr in der Weise teilhaben, dass ihnen das gemeinsam gestaltete Leben zusammen mit wirtschaftlicher Autarkie (Pol. I 2, 1252 b 29) das normative Gut rechtlicher Ordnung sichert (ebd. 1253 a 17 ff). Der Herrschaft von Gleichen über Gleiche mit ihrem Wechsel von Regieren und Regiertwerden geht zeitlich – und für Aristoteles auch logisch – die Herrschaft des Königs über das ›Volk‹ (Demos) voraus, die derjenigen entsprochen hat, mit der die ›Herren‹ größerer und kleinerer ›Häuser‹ über ihre Familie und die mit ihr verbundenen ›Unfreien‹ regiert haben. Das von Homer beschriebene ›Haus‹ des Odysseus in Ithaka oder das des Alkinoos bei den Phäaken veranschaulichen diese für die nachmykenischen Verhältnisse in Griechenland charakteristische Form der hausgebundenen Königsherrschaft, die sich wesentlich von der im Orient verbreiteten theologisch legitimierten Monarchie und der auf sie zentrierten Palastökonomie unterscheidet.1Die ›gute Ordnung‹ des ›königlich‹ regierten ›Hauses‹ war als personales Gut abhängig von der Fähigkeit seines Herrn, beim Entscheiden von Streitfällen und der Regelung der allgemeinen Angelegenheiten ›in Scheu vor den Göttern unter vielen starken Männern (sc. das sind die ›königlichen‹ Herren der kleineren Nachbarhäuser, AR) zu herrschen, dabei die guten Rechtsweisungen (εὐδικίας) hoch zu halten‹ (Homer, Od. 19, 109 ff) und den eigenen Besitz vor dem Zugriff anderer zu schützen. Kritische Vorgänge wie die Abwesenheit des Herrn, seine Vertreibung durch Mächtigere, problematische Erbschaftsregelungen, in größeren Häusern auch Herrschaftsteilungen oder Rivalitätskämpfe zwischen Thronprätendenten konnten selbst glänzende Häuser vernichten. Auch in Athen wardie mythisch erinnerte Frühzeit vom stasislastigen Streit um die Machtposition des Königs bestimmt.2In historischer Zeit geht der Bürger-Polis eine Periode heftiger Rivalitätskämpfe zwischen den führenden Grund besitzenden ›Adligen‹ und ihren Anhängerschaften um die Vorherrschaft in Attika voraus. Der Preis für deren Beendigung konnte die Tyrannis sein, bei der der Herreines›Hauses‹ durch die gewaltsame Ausschaltung seiner Konkurrenten für eine bestimmte Zeit das Machtmonopol behauptet und damit den allgemeinen Frieden gesichert hat. Stasis3und Tyrannis4sind deshalb die entscheidenden Hindernisse gewesen, gegen die sich die Polis mit ihrer Orientierung an der Norm bürgerlicher Gleichheit durchsetzen musste.

In derOrestiewird der Gegensatz zwischen ›Haus‹ und ›Polis‹, den Athen zum Zeitpunkt der Erstaufführung im Jahre 458 historisch bereits überwunden hat, in tragisch-dramatischer Zuspitzung noch einmal auf die Bühne gebracht. Sie zeigt den Zusammenbruch des königlichen Hauses der Atriden in Argos und stellt dieser Welt des Todes das Bild eines sittlich fundierten, göttlich geschützten und für alle Bürger vorteilhaften Lebens in der Polis entgegen. Dabei wird deutlich, dass die Polis ihre Sittlichkeit zwar aus sich selbst erzeugen, aber auch normativen Ansprüchen gerecht werden muss, die für das königlich regierte ›Haus‹ verbindlich waren. DieOrestieist ein Musterbeispielpolitischer Kunst5, weil sie zeigt, wie die Polis durch ihren Eingriff in eine Kette ›urerster Schuld‹, die im ›Haus‹ entstanden ist und auch sie ohne eigenes Verschulden bedroht, ein verlässliches Wachstum des Guten begründet. Außerdem zeigt sie, dass der Übergang von tödlicher Gewalt zu lebensfreundlichem Recht in der gelebten Wirklichkeit ein außerordentlich schwieriger und immer wieder von Gegenkräften bedrohter Prozess sein kann. In der folgenden Interpretation soll deshalb den Verwicklungen nachgegangen werden, die erst nach langem und oft hoffnungslos erscheinendem Ringen bei allen am Konflikt Beteiligten die Besonne