1. KAPITEL
Liam Jenkins kniff zum Schutz vor der tief stehenden Wintersonne die Augen zusammen. Er betrachtete das in der Ferne liegende Thornwood Castle und versuchte sich vorzustellen, dort zu leben.
Es gelang ihm nicht.
Weder das dunkle Grau der steinernen Mauern noch die wehrhaften Zinnen oder der düstere Schatten, den das Schloss inmitten der englischen Landschaft warf, wirkten besonders einladend.
Wenn er es in der Vergangenheit gewagt hatte, von einem Zuhause zu träumen, hatte er immer ein freundliches, ansprechendes Haus vor seinem inneren Auge gesehen. Irgendwo in Strandnähe in seiner Heimat Australien. Ein Haus, das er selbst entworfen und gebaut hatte – das nur ihm allein gehörte und frei war von bedrückenden Erinnerungen.
Stattdessen besaß er nun ein jahrhundertealtes englisches Schloss voll mit den Geschichten und Dingen anderer Menschen.
Und jetzt zog sich der Himmel auch noch zu, und es fing an zu regnen.
Seufzend lehnte Liam sich an seinen Mietwagen und ignorierte die eisigen Tropfen, die ihm von seinem Kragen in den Nacken liefen. Zum wiederholten Mal fragte er sich, was seine Großtante Rose sich nur dabei gedacht hatte. Als sie vor Kurzem starb, hatten sie sich bereits seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen. Und bevor es damals zu jenem desaströsen Treffen in London gekommen war, hatte er Thornwood Castle nur ein einziges Mal betreten. Von engen Familienbanden konnte also keine Rede sein. In seinen Augen war Rose nur eine von vielen Verwandten, in deren Leben für ihn kein Platz gewesen war.
Schon als er Rose das erste Mal besucht hatte, war Liam klar gewesen, dass er nie nach Thornwood Castle gehören würde. Mit all den Säulen, dem dicken Gemäuer und den verstaubten Rüstungen stellte Thornwood eine ganz andere Welt dar als die, in der er mit seiner Mutter in ihrem kleinen Haus an der australischen Goldküste gelebt hatte. Als er zehn Jahre alt war, starb seine Mutter, von der er immer geglaubt hatte, dass sie unbesiegbar sei. Sie war es nicht. Den Waisenjungen, der er damals war und der um seine Mutter trauerte, hatte der Gedanke, in Thornwood leben zu müssen, mit Angst und Schrecken erfüllt. Und das, noch bevor er seiner Furcht einflößenden Großtante überhaupt begegnet war.
Als Liam jetzt an sie dachte, erschauderte er bei der Erinnerung an ihre eisige Ausstrahlung. Die Art, wie sie über ihm aufragte, die stahlgrauen Haare streng zurückgekämmt, ihre dunkelblauen Augen den seinen so ähnlich. Er hatte die Augen seines Vaters – und niemand hatte wirklich je infrage gestellt, wessen Sohn er war. Nur hatte seine Familie sich nie öffentlich zu ihm bekannt.
Doch nun schob Liam die Erinnerungen beiseite und stieg wieder in den Wagen.
Thornwood gehörte ihm – ein Erbe, das er weder erwartet noch gewollt hatte, eine Last. Thornwood verkörperte mehr als bloß Geschichte. Es war das Vermächtnis einer Gesellschaft, die ihn verstoßen hatte, bevor er überhaupt auf die Welt gekommen war. Andernorts mochte die Zeit der Klassenkämpfe vorbei sein, mochte es egal sein, ob ein Kind außerehelich geboren wurde, aber Liam wusste, dass die alten Vorurteile auf Thornwood noch immer herrschten.
Zumindest, solange Rose gelebt hatte. Jetzt aber war sie tot.
Könnte Thornwood vielleicht doch ein Zuhause werden? Alles, woran Liam sich erinnerte, waren kalte, abweisende Räume und die unübersehbare Ablehnung des Butlers, der ihm damals die Tür geöffnet hatte.
Doch da war dieser Brief, den ihm der Anwalt übergeben hatte, als er Liam über sein Erbe in Kenntnis gesetzt hatte. Rose hatte den Brief nur wenige Tage vor ihrem Tod geschrieben und Liam darum gebeten, Thornwood Castle endlich zu seinem Zuhause zu machen und das Familienvermächtnis anzutreten.
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