1. KAPITEL
Mit raschen Schritten marschierte Kensey Roberts von der Villa hinüber zum Büro ihres Chefs. Sie arbeiteten nun schon seit einer Woche von seinem Haus in Tarrytown, New York, aus. Normalerweise genoss sie den kurzen Spaziergang durch den Garten, aber nicht heute.
Neil Patterson sah auf, als sie hereinkam.
„Ich überfalle dich nur ungern damit, aber … ich brauche ein paar Tage frei“, erklärte Kensey ohne lange Vorrede.
Neil betrachtete sie mit hochgezogenen Brauen. „Guten Morgen.“
„Mit etwas Glück benötige ich nur eine Woche. Dann kann ich den Van Gogh im nächsten Monat wie geplant nach Wien begleiten.“ Nichts an ihrem Ausdruck verriet etwas anderes als ihre gewohnte Professionalität. Diese Maske war ihr seit Jahren zur zweiten Natur geworden. Sie hatte dabei den besten Lehrer der Welt gehabt. „Es könnte auch sein, dass es etwas länger dauert.“
Neil stellte keine Fragen. Sie hätte ihre Rolex darauf verwettet, dass er bereits wusste, was los war. Der CEO der Patterson Group hatte seine erste Million mit dreiundzwanzig gemacht und daraus innerhalb von fünfundzwanzig Jahren ein milliardenschweres Imperium aufgebaut. Er war nicht nur brillant, er war umsichtig und holte zuerst einmal alle nötigen Informationen ein, bevor er handelte.
Er war auch der Mann, der vor vier Jahren irgendetwas in ihr erkannt hatte, das ihn bewog, sie unter seine Fittiche zu nehmen und ihr ein Leben zu bieten, von dem sie nicht einmal geträumt hatte. Kensey wollte sein Vertrauen nicht enttäuschen, aber sie musste etwas sehr Wichtiges beweisen.
„Ich habe mich gefragt, ob du das gesehen hast.“ Neil schlug einen Aktendeckel auf, den er vor sich liegen hatte.
In dem Moment, als sie die Ausgabe derNew York Post sah, wusste sie, dass es vorbei war. Ihr Geheimnis stand kurz davor, gelüftet zu werden. Es hatte bereits vor zwei Jahren begonnen, als Neil erraten hatte, dass sie eine Verbindung zum „Houdini-Dieb“ hatte, benannt nach dem legendären ungarischen Entfesselungskünstler, der sich scheinbar nach Wunsch in Luft aufzulösen vermocht hatte. Aber dann hatten die Diebstähle aufgehört, und Neil hatte sie nicht gedrängt, auf die weißen Flecken in ihrer Vergangenheit einzugehen. Jetzt würde er es tun, und sie konnte ihm keinen Vorwurf daraus machen.
Er schob ihr die Zeitung zu. Jede Faser ihres Körpers drängte danach, die Flucht zu ergreifen, aber sie hielt den Blick auf den Artikel gerichtet, der ihr Leben vielleicht für immer verändern würde.
10-Millionen-Dollar-Gemälde von Degas gestohlen
Douglas Foster, Kunstsammler und international agierender Kunsthändler, wird in Verbindung gebracht mit dem Verschwinden eines Gemäldes von Edgar Degas.
Am Sonntagmorgen um neun Uhr stellte Investmentbanker Clive Seymour fest, dass seine Alarmanlage abgeschaltet war und ein Gemälde von Degas im Wert von zehn Millionen Dollar aus seiner Kunstsammlung fehlte. Mr. Seymour hielt sich zu dem Zeitpunkt allein im Haus auf. Er hatte mit seinem langjährigen Geschäftspartner Foster gemeinsam zu Abend gegessen.
Detective Sergeant Calvin Brown von der New Yorker Polizei traf um neun Uhr dreißig am Tatort ein. Er bestätigte, dass Foster Seymours einziger Gast gewesen sei. Mr. Seymours Fahrer gibt an, Foster kurz nach Mitternacht zum Hotel Waldorf Astoria in Manhattan gebracht zu haben. Foster, der in Paris lebt, war erst am frühen Samstagnachmittag in New York eingetroffen.