: Ricarda Huch
: Der Fall Deruga Kriminalroman
: Null Papier Verlag
: 9783962815479
: Krimis bei Null Papier
: 3
: CHF 0.90
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: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 242
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eine exhumierte Leiche, ein Giftmord und ein geschiedener Arzt bilden das Gerüst für Ricarda Huchs 1917 erschienenen und später verfilmten Kriminalroman. Der Arzt Deruga steht vor Gericht. Er soll seine von ihm geschiedene Frau mit Curare ermordet haben. Als Alleinerbe des Opfers ist er natürlich verdächtig. Aber der Fall ist längst nicht so klar, wie er sich zunächst darstellen mag. Vor Gericht wird die Wahrheit Schicht für Schicht freigelegt. Und es scheint, als sei das Urteil der Gesellschaft gegen den Arzt vorschnell getroffen. Marcel Reich-Ranicki schrieb, dass 'Der Fall Deruga' zu den literarisch beachtlichen Büchern gehörte, die ihn in seiner Jugend beeindruckt hätten. [Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 3. Februar 2008] 1938 veröffentlichte die UFA eine Verfilmung des Romans. Franz Peter Wirth verfilmte den Roman unter dem Titel '... und nichts als die Wahrheit' im Jahr 1958 mit O. W. Fischer und Marianne Koch. 'Der Roman ist bis heute lesenswert. ... Die Autorin gestaltet den Prozess als eine Folge von literarischen Kabinettstücken, mit glänzenden Personenbeschreibungen, sehr unterhaltsam.' [Jürg Scheuzger, Neue Zürcher Zeitung am Sonntag 07.12.2014] Null Papier Verlag

Ricarda Huch (1864-1947) war eine deutsche Schriftstellerin, Dichterin, Philosophin und Historikerin. Ihr literarisches Werk ist äußerst umfangreich und von thematischer wie stilistischer Breite. So begann sie mit Gedichten, schrieb dann jedoch zunehmend Romane und vor allem historische Werke, die zum Teil episodenhaft zwischen Geschichtswissenschaft und Literatur angesiedelt sind. Zur Erinnerung verleiht Darmstadt alle drei Jahre einen Ricarda-Huch-Preis.

I


Wer ist der An­walt, der mit Jus­tiz­rat Fein her­ein­ge­kom­men ist?« frag­te eine Dame im Zuschau­er­raum ih­ren Mann, »und warum hat der An­ge­klag­te zwei An­wäl­te? Fein ist al­ler­dings wohl nur ein Schau­stück.«

»Wenn der Be­tref­fen­de ein An­walt wäre, lie­bes Kind, wür­de er einen Talar tra­gen«, ant­wor­te­te der Ge­frag­te vor­wurfs­voll. »Aber wer es ist, kann ich dir auch nicht sa­gen.« Ein vor dem Ehe­paar sit­zen­der Herr dreh­te sich um und er­klär­te, der frag­li­che Herr sei der An­ge­klag­teDr. De­ru­ga.

»Ist das mög­lich?« rief die Dame leb­haft, »wis­sen Sie das be­stimmt?«

Der alte Herr lach­te ver­gnügt. »So be­stimmt wie ich weiß, dass ich der Mu­sik­in­stru­men­ten­ma­cher Reich­ardt vom Kat­zen­tritt bin; der Herr Dok­tor wohnt näm­lich bei mir.«

Die Dame mach­te große Au­gen. »Lässt man denn einen Mör­der frei her­um­lau­fen?« frag­te sie. »Ich dach­te, er wäre im Ge­fäng­nis. Ist es Ih­nen nicht un­heim­lich, einen sol­chen Men­schen in Ih­rer Woh­nung zu ha­ben?«

»Ja, se­hen Sie, gnä­di­ge Frau«, sag­te der alte Mann, »der Herr Jus­tiz­rat Fein hat ihn bei mir ein­ge­führt, weil er mich schon lan­ge kennt und sei­nen Kli­en­ten gut ver­sorgt wis­sen woll­te, und wenn der Herr Jus­tiz­rat so viel Ver­trau­en in mich setzt, dass er sei­ne Gei­gen und Flö­ten von mir re­pa­rie­ren und sein Töch­ter­chen Un­ter­richt im Zither­spie­len bei mir neh­men lässt, so schickt es sich, dass ich auch wie­der Ver­trau­en zu ihm habe. Und er hat mir sei­nen Kli­en­ten wärms­tens emp­foh­len, der sich bis jetzt als ein lie­ber, gut­ar­ti­ger Mensch ge­zeigt hat, wenn auch et­was wun­der­lich.«

»Du darfst nicht ver­ges­sen, lie­bes Kind«, sag­te der Ehe­mann, »dass ein An­ge­klag­ter noch kein Ver­ur­teil­ter ist.«

»Sehr rich­tig, sehr rich­tig«, sag­te der Mu­sik­in­stru­men­ten­ma­cher und woll­te eben al­ler­lei merk­wür­di­ge Fäl­le von Jus­tizirr­tü­mern er­zäh­len, als das Er­schei­nen der Ge­schwo­re­nen sei­ne Auf­merk­sam­keit ab­lenk­te.

Sie fin­de es doch un­ge­hö­rig, flüs­ter­te die jun­ge Dame ih­rem Man­ne zu, dass ein des Mor­des Ver­däch­ti­ger sich so frei be­we­gen dür­fe, noch dazu ei­ner, der so aus­se­he, als ob er zu je­dem Ver­bre­chen fä­hig wäre.

»Man soll sich hü­ten, nach dem Äu­ße­ren zu ur­tei­len, lie­bes Kind«, sag­te der Ehe­mann. »Aber ab­ge­se­hen da­von wür­de ich auch die­sem Men­schen nicht über den Weg trau­en. Es ist merk­wür­dig, wie leicht­gläu­big und wie un­ge­schickt im Aus­le­gen von Phy­sio­gno­mi­en1 das Volk ist.«

Die meis­ten Zuschau­er hat­ten den­sel­ben un­güns­ti­gen Ein­druck vonDr. De­ru­ga emp­fan­gen, der durch Nach­läs­sig­keit in Klei­dung und Hal­tung und mit sei­nen neu­gie­rig be­lus­tig­ten Bli­cken, die den Saal durch­wan­der­ten, der Ma­je­stät und Furcht­bar­keit des Or­tes zu spot­ten schi­en.

»Ich dach­te, er hät­te schwar­zes, krau­ses Haar und Feu­er­au­gen«, be­merk­te die jun­ge Frau ta­delnd ge­gen ih­ren Mann.

»Aber, Kind­chen«, ent­geg­ne­te die­ser, »wir ha­ben doch auch nicht alle blaue Au­gen und blon­des Haar.«

»Er stammt aus Ober­ita­li­en«, misch­te sich ein Herr ein, »wo der ger­ma­ni­sche Ein­schlag sich be­merk­bar macht.«

Ein an­de­rer füg­te hin­zu, er ver­tre­te doch einen durch­aus ita­lie­ni­schen Ty­pus, näm­lich den der ver­schla­ge­nen, heim­tücki­schen, rach­süch­ti­gen Wel­schen,2 wie er seit dem frü­hen Mit­tel­al­ter in der Vor­stel­lung der Deut­schen ge­lebt habe.

Un­ter­des­sen war ein Ge­richts­die­ner an den An­ge­klag­ten her­an­ge­tre­ten und hat­te ihn auf­ge­for­dert, sich auf der An­kla­ge­bank nie­der­zu­las­sen, was er folg­sam tat, um sein Ge­spräch mit dem Jus­tiz­rat Fein von dort aus fort­zu­set­zen.

»Se­hen Sie, da kommt der Jä­ger vor dem Herrn,Dr. Bern­bur­ger«, sag­te der Jus­tiz­rat, auf einen jun­gen An­walt bli­ckend, der eben den Zuschau­er­raum be­trat. »Den hat die Baro­nin Trusch­ko­witz auf Ihre Spu­ren ge­hef­tet, und eine gute Spür­na­se hat er, wie Sie se­hen. Er ist Ihr ge­fähr­lichs­ter Feind, der Staats­an­walt ist nur ein Po­panz.«

De­ru­ga be­trach­te­teDr. Bern­bur­ger, der an­ge­le­gent­lichst in sei­ne Pa­pie­re ver­tieft schi­en.

»Ich glau­be, er ist Ih­nen eben­so ge­fähr­lich wie mir«, sag­te er dann mit freund­li­chem Spott, die große, be­que­me Ge­stalt des Jus­tiz­rats be­trach­tend. »Ei­gent­lich ge­fie­le mir der Bern­bur­ger ganz gut, wenn er nicht ein so ge­mei­ner Cha­rak­ter wäre.«

Der Jus­tiz­rat wen­de­te sich um und sag­te, den Arm auf das Ge­län­der stüt­zend, das die An­kla­ge­bank ab­schloss: »Brin­gen Sie mich jetzt nicht zum La­chen, Sie ver­zwei­fel­ter Ita­lie­ner! Wir ha­ben alle Ur­sa­che, uns ein Bei­spiel an sei­nen Gei­er­ma­nie­ren zu neh­men.«

»Er hat wirk­lich et­was von ei­nem Raub­vo­gel«, sag­te De­ru­ga, »ein fei­ner Kopf, so möch­te ich aus­se­hen. Sehe ich ihm nicht ähn­lich?«

»Be­neh­men Sie sich ähn­lich«, sag­te der Jus­tiz­rat, »und hal­ten Sie Ihre Ge­dan­ken zu­sam­men! Mensch, Ihre Sa­che ist nicht so si­cher, wie Sie glau­ben. Der Bern­bur­ger hat zwei­fel­los Ma­te­ri­al im Hin­ter­halt, mit dem er uns über­rum­peln will; also pas­sen Sie auf!«

»Aber ja«, sag­te De­ru­ga ein we­nig un­ge­dul­dig. »Ihren Kopf be­hal­ten Sie auf alle Fäl­le, und an mei­nem braucht Ih­nen nicht mehr zu lie­gen als mir.«

Jetzt flo­gen die Tü­ren im Hin­ter­grun­de des Saa­l­es auf, und der Vor­sit­zen­de des Ge­richts, Ober­lan­des­ge­richts­ratDr. Zeu­ne­mann, trat ein, dem die bei­den Bei­sit­zer und der Staats­an­walt folg­ten. Der Luft­zug hob den Talar des rasch Vor­wärts­schrei­ten­den, so­dass sei­ne stram­me und statt­li­che Ge­stalt sicht­bar wur­de. Er grüß­te mit ei­ner Ge­bär­de, die we­der her­ab­las­send noch ver­trau­lich war und eine an­ge­mes­se­ne Mi­schung von Ehr­er­bie­tung und Zu­ver­sicht ein­flö­ßte. Sei­ne Per­sön­lich­keit er­füll­te den bäng­lich fei­er­li­chen Raum mit ei­ner ge­wis­sen Hei­ter­keit, in­so­fern man die Emp­fin­dung be­kam, es wer­de sich hier nichts er­eig­nen, was nicht durch­aus in der Ord­nung wäre. Er rieb, nach­dem er sich ge­setzt hat­te, sei­ne schö­nen, brei­ten, wei­ßen Hän­de leicht an­ein­an­der und ging dann an das Ge­schäft, in­dem er die Aus­wahl der Ge­schwo­re­nen be­sorg­te. Es ging glatt und flott vor­an, je­der fühl­te sich von ei­ner wohl­tä­ti­gen Macht an sei­nen Platz ge­scho­ben.

»Mei­ne Her­ren Ge­schwo­re­nen«, be­gann er, »es han­delt sich heu­te um einen et­was ver­wi­ckel­ten Fall, des­sen Vor­ge­schich­te ich Ih­nen kurz zu­sam­men­fas­send vor­füh­ren will.

Am 2. Ok­to­ber starb hier in Mün­chen, in­fol­ge ei­nes Krebs­lei­dens, wie man an­nahm, Frau Min­go Swie­ter, ge­schie­de­ne Frau De­ru­ga. Sie hat­te nach ih­rer vor sieb­zehn Jah­ren er­folg­ten Schei­dung von De­ru­ga ih­ren Mäd­chen­na­men wie­der­an­ge­nom­men. In ih­rem Te­sta­ment, das An­fang...