: Andreas Latzko
: Sieben Tage Roman
: Null Papier Verlag
: 9783962815431
: 3
: CHF 0.90
:
: Historische Romane und Erzählungen
: German
: 252
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein wiederentdeckter Krimi aus dem Deutschland der Zwischenkriegszeit. Wichtiger noch (fast) als die Handlung ist die Schilderung der politischen und gesellschaftlichen Zustände eines Landes in Auflösung. Weihnachten - Arm trifft auf Reich; der Arbeiter Karl Abt auf den reichen Unternehmer Baron Mangien. Abt weiß um den Ehebruch des Barons, er will diesen erpressen: Nur einmal für drei Tage will Abt den Luxus genießen, der sonst Mangien vorbehalten ist; einmal will er es sich gut gehen lassen, einmal den beschwerlichen Alltag abschütteln. Doch am Ende kommt alles anders. Denn Abt will nicht nur einen kurzen Rollentausch. Die 'Goldenen Zwanziger' sind in Latzkos Geschichte nur ein Märchen, denn schon früh sah der Autor den Nationalsozialismus am Horizont aufziehen ('Es lastet ein Fluch auf Deutschland, dass immer wieder ein neuer Mann es ,glänzenden Zeiten entgegenführt''). Das Buch steht damit in bester Tradition von Falladas 'Kleiner Mann, was nun?' und Kästners 'Fabian'. Null Papier Verlag

Andreas Latzko (1876-1943) war ein österreichischer Schriftsteller und Pazifist. Im Ersten Weltkrieg wird er verwundet und schwer traumatisiert. Während eines Aufenthalts in einem Sanatorium in Davos schreibt er, noch anonym und unter dem Eindruck seiner Kriegserfahrungen, die ersten Erzählungen. Die Nazis setzen ihn als einen der ersten auf ihre Liste 'unerwünschter Literatur.'

I.


Die ers­ten Schat­ten des Weih­nachts­abends fie­len in das ver­rauch­te Grau der Bahn­hofs­hal­le, als der längst fäl­li­ge Ham­bur­ger Schnell­zug end­lich in Ber­lin ein­fuhr. Er schüt­te­te eine un­ge­wöhn­lich dich­te Mas­se von Rei­sen­den auf den Bahn­steig, Kauf­leu­te, die in letz­ter Stun­de vor dem Fest ih­ren Fa­mi­li­en zu­streb­ten, und ei­ni­ge hun­dert Ur­lau­ber der Ma­ri­ne, die zum An­hal­ter Bahn­hof hin­über muss­ten und, in Sor­ge um den ge­fähr­de­ten An­schluss, rück­sichts­los durch das Ge­drän­ge ru­der­ten. Baron Man­gi­en ließ die Men­ge an sich vor­bei­has­ten, be­lus­tigt von dem über­mü­ti­gen Trei­ben der Ma­tro­sen, das so an­ge­nehm von der ir­ri­tie­ren­den Bie­der­keit der zahl­rei­chen Fa­mi­li­en­vä­ter ab­stach. Er ver­trug den selbst­ver­lie­he­nen Glo­ri­en­schein, das Sich­wich­tig­neh­men die­ser Brot­ver­die­ner nicht.

Im Grun­de aber wuss­te er sehr wohl, warum ihm die­se ar­men Teu­fel so arg auf die Ner­ven gin­gen. Sie er­in­ner­ten ihn an die Sze­ne bei sei­ner Abrei­se, an den ein­zi­gen vor­wurfs­vol­len Satz, den sich sei­ne Frau, ganz ge­gen ihre Ge­wohn­heit, dies­mal hat­te ent­rei­ßen las­sen. Na­tür­lich war sie im Recht. Ohne Zwei­fel ver­brach­te je­der Durch­schnitts­mann den Hei­li­gen Abend im Krei­se sei­ner Fa­mi­lie. Aber wie tö­richt war es, hieraus die Fol­ge­rung ab­zu­lei­ten, der Ge­ne­ral­di­rek­tor und Haupt­ak­tio­när der Man­gi­en-Wer­ke müss­te sich erst recht frei­ma­chen kön­nen. Lag es nicht im Ge­gen­teil auf der Hand, dass die er­höh­te Verant­wort­lich­keit Be­schrän­kun­gen not­wen­dig mach­te? Man konn­te nicht ei­ner Fa­brik vor­ste­hen, die vier­tau­send Ar­bei­ter be­schäf­tig­te, und das Fa­mi­li­en­glück ei­nes Wirk­wa­ren­rei­sen­den be­an­spru­chen!

Der pein­li­che Au­gen­blick des Ab­schied­neh­mens, da er wie ein ver­lo­ge­ner Schul­jun­ge vor sei­ner Frau ge­stan­den, hat­te einen bit­te­ren Nach­ge­schmack zu­rück­ge­las­sen. Um ihn los­zu­wer­den, re­de­te der Baron sich ein, er sei nur aus Trotz ab­ge­reist. Ein ein­zi­ges, zärt­li­ches Wort hät­te ge­nügt, ihn zum Blei­ben zu be­we­gen. Er er­tapp­te sich bei die­sem Selbst­be­trug, als er auf den glit­schi­gen, ne­bel­feuch­ten Platz vor dem Bahn­hof hin­austrat und die Ber­li­ner Licht­re­kla­men in die Däm­me­rung rie­seln sah. Beim ers­ten Schritt in das Häu­ser­meer fie­len alle Be­den­ken und Ver­stim­mun­gen von ihm ab. Er dach­te an das lei­den­schaft­li­che Drän­gen sei­ner Ge­lieb­ten am Te­le­fon – warum hät­te er die Fle­hen­de, die sich mit Wor­ten schon die Klei­der vom Lei­be riss, ab­wei­sen sol­len sei­ner Frau zu­lie­be, die es un­ter ih­rer Wür­de fand, den Kampf auf­zu­neh­men um ih­ren Mann. Nach bald zwölf­jäh­ri­ger Ehe tat es zwölf­fach wohl, noch im­mer um­wor­ben und be­gehrt zu wer­den.

Eben woll­te er un­ge­dul­dig die Num­mer sei­nes Ge­päck­trä­gers ru­fen, da sah er ihn auch schon her­an­hum­peln, schwer be­la­den, schäu­mend ge­gen die »Blau­en Jun­gens«, die kei­nen Men­schen an ein Auto her­an­lie­ßen. In der Tat jag­te eben das letz­te Taxi, joh­len­de Ma­tro­sen auf dem Tritt­brett und selbst auf dem Ge­päcks­git­ter hin­ten, mit Voll­gas da­von, und der Baron muss­te froh sein, dass er ge­ra­de noch eine elen­de Pfer­de­drosch­ke für sich re­qui­rie­ren konn­te.

Als der vor­sint­flut­li­che Kar­ren klap­pernd los­fuhr, ver­gaß Man­gi­en Zorn und Un­ge­duld und be­dau­er­te nur, dass kein Zei­tungs­fo­to­graf bei der Hand war, den Ber­li­ner Ein­zug des größ­ten Au­to­mo­bil­fa­bri­kan­ten Deutsch­lands in ei­ner Pfer­de­drosch­ke zu ver­ewi­gen. Aber die­se hu­mo­ris­ti­sche Sei­te hör­te bald auf, ihn zu un­ter­hal­ten, da kein vor­beif­lit­zen­der Chauf­feur auf sein Win­ken und Ru­fen ach­te­te und das Abströ­men der Men­ge aus dem Stadt­zen­trum die Schne­cken­fahrt an je­der Stra­ßen­kreu­zung stopp­te. Wie ein un­er­schöpf­li­ches Re­ser­voir ent­leer­te sich das Ge­schäfts­vier­tel, beu­te­be­packt stürm­ten die Hor­den der Plün­de­rer aus der lo­dern­den Stadt.

Im of­fe­nen Wa­gen, den ru­ßi­gen, feucht­we­hen­den Ne­bel auf den Lip­pen, um­tobt und über­holt von al­len Sei­ten, ver­lor der Baron den letz­ten Rest sei­ner Ge­duld, als in dem He­xen­kes­sel vor dem Bran­den­bur­ger Tor sein Wa­gen wie ein ängst­li­cher Fuß­gän­ger ste­cken­blieb und der alte Kut­scher zwei­mal die Ge­le­gen­heit zum über­que­ren ver­säum­te.

Mehr noch als der Zeit­ver­lust är­ger­te ihn je­doch sei­ne ei­ge­ne Ge­reizt­heit. Er muss­te an sich hal­ten, um nicht aus dem Wa­gen zu sprin­gen, so laut don­ner­te ihm aus dem be­täu­ben­den Lärm der zehn­tau­send­fach wi­der­hal­len­de Vor­wurf sei­ner Frau in die Ohren. Je­der ein­zel­ne Men­schen­trop­fen in dem vor­bei­ja­gen­den Strom hat­te das glei­che Ziel, je­der eil­te heim, nur er saß ab­seits in der alt­mo­di­schen Drosch­ke, her­aus­ge­ho­ben, an­ge­pran­gert so­zu­sa­gen als der eine, der von Frau und Kin­dern fort zu der Ge­lieb­ten fuhr.

Sein Zorn mach­te sich in lau­tem Un­mut Luft und wäre viel­leicht in Tät­lich­kei­ten ge­gen den Kut­scher aus­ge­ar­tet, ohne den wei­ßen Hand­schuh des Ver­kehrs­schutz­man­nes, der eben zum drit­ten Mal die Durch­fahrt frei­gab. Ob nun der alte Mann auf dem Bock sei­ne be­lei­dig­te Be­rufs­eh­re her­stel­len oder nur sei­ne Wut an dem wehr­lo­sen Tier aus­las­sen woll­te: das arme Pferd, un­sanft aus sei­nem knie­wei­chen Dö­sen ge­ris­sen, glitsch­te aus und stürz­te auf die Deich­sel, die zer­brach.

Nach der Bum­me­lei auf der Bahn auch noch ein Un­fall! Das konn­te al­les ver­der­ben, wenn den Her­ren im Ho­tel das War­ten zu lan­ge wur­de! Die an­geb­lich wich­ti­ge Kon­fe­renz hat­te den Vor­wand für die Rei­se ge­bo­ten, das Ali­bi durf­te nicht ver­säumt wer­den. Statt erst lan­ge nach ei­nem Fahr­zeug zu fahn­den, er­such­te der Baron einen ärm­lich ge­klei­de­ten Mann, ihm das Ge­päck zum na­hen Ho­tel zu tra­gen.

Aber der Mann ge­bär­de­te sich wie ein Toll­häus­ler, sprang vor, um dem Baron aus nächs­ter Nähe un­ter den Hut zu schau­en, stieß mit dem Fuß nach den Hand­ta­schen und schrie: »Ih­nen – Ih­nen soll ich hel­fen? Tra­gen Sie sich Ihren Dreck da sel­ber!«

Man­gi­en konn­te sich nicht er­in­nern, dem Men­schen je­mals be­geg­net zu sein. An­de­re Hän­de grif­fen dienst­eif­rig zu und das Ge­sicht des Wü­te­richs tauch­te un­ter, ehe der Baron es ge­nau­er hät­te prü­fen kön­nen.

Ohne die Ver­spä­tung, die ihn zur Eile an­trieb, wäre es ihm wohl kaum ent­gan­gen, dass sein un­be­kann­ter Feind ge­gen­über dem Ho­te­lein­gang hin­ter ei­ner Lit­fass­säu­le her­vor­späh­te, ver­ächt­lich schmun­zelnd über die Ehr­furchts­be­zeu­gun­gen des her­aus­stür­zen­den Per­so­nals. Wie eine Kop­pel los­ge­las­se­ner Hun­de spran­gen die li­vrier­ten Bur­schen an dem rei­chen Gast hoch, wett­ei­fernd um die Gunst, sei­ne Ak­ten­ta­sche tra­gen zu dür­fen....