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Die Geschichte der Geburt Jesu
LUKAS 2,1-20
Die überlieferten Ereignisse der Weihnachtsgeschichte sind allen Christen hinlänglich bekannt. Zur Geburt Jesu gehören drei weise Männer mit Geschenken, Hirten auf dem Feld mitten im Winter, ein Baby, das in einem Stall geboren wird, und „kein Raum in der Herberge“. Diese Aspekte des Berichts sind in den Köpfen der Menschen fest verankert. Deswegen stellt sich die Frage, ob man zwischen dem Text und seinem traditionellen Verständnis eine kritische Unterscheidung vornehmen muss. Haben wir über Jahrhunderte hinweg etwas in den Text hineingelesen, das er eigentlich gar nicht enthält?21
Ein Diamantring wird bewundert und voller Stolz getragen, doch irgendwann sollte man ihn zum Reinigen zu einem Juwelier bringen, damit er wieder seine ursprüngliche Leuchtkraft erhält. Je öfter der Ring getragen wird, umso eher sollte er hin und wieder gereinigt werden. Je vertrauter wir mit einer biblischen Geschichte sind, umso schwieriger ist es, sie anders zu lesen, als sie schon immer verstanden wurde. Und je länger die Ungenauigkeit in der Überlieferung unkorrigiert bleibt, umso tiefer wird sie im christlichen Bewusstsein verankert. Jesu Geburt ist eine solche Geschichte.
Das traditionelle Verständnis des Berichts in Lukas 2,1-18 enthält mehrere entscheidende Schwächen:
1. Josef kehrte in den Ort zurück, aus dem er stammte. Im Nahen Osten besitzen die Menschen ein ausgeprägtes Gedächtnis für Geschichte. Für sie hat die Verwandtschaft und deren Verwurzelung in ihrem Herkunftsort eine große Bedeutung. In einer solchen Welt hätte ein Mann wie Josef in Bethlehem auftauchen können und sich den Einwohnern als „Josef, [Sohn] des Eli, des Mattat, des Levi“ (Lk 3,23 f) vorstellen können – und die meisten Häuser des Ortes hätten ihm offen gestanden.
2. Josef war ein „Adliger“, das heißt, er stammte aus der Familie des Königs David. Die Familie Davids war so berühmt in Bethlehem, dass die Einheimischen den Ort offenbar „Stadt Davids“ nannten, eine Gepflogenheit, der man oft begegnet. Der offizielle Name des Ortes war Bethlehem. Jeder wusste, dass die hebräischen Heiligen Schriften Jerusalem als die „Stadt Davids“ bezeichneten. Doch so bezeichneten in der Umgegend offenbar viele Menschen auch Bethlehem (Lk 2,4). Da Josef aus dieser berühmten Familie stammte, wäre er überall im Ort willkommen gewesen.
3. In jeder Kultur wird eine Frau, die kurz vor der Niederkunft steht, besonders umsorgt. Einfache ländliche Gemeinschaften überall auf der Welt helfen ihren eigenen Frauen bei der Geburt, ungeachtet der Umstände. Sollte Bethlehem eine Ausnahme gewesen sein? Hatten die Menschen in Bethlehem kein Ehrgefühl? Sicher hätte die Gemeinschaft die Verantwortung verspürt, Josef bei der Suche einer angemessenen Unterkunft für Maria zu helfen und ihr die Fürsorge zukommen zu lassen, die sie brauchte. Einen Nachkommen Davids in der „Stadt Davids“ abzuweisen, hätte unsägliche Schande über den ganzen Ort gebracht.
4. Maria hatte Verwandtschaft in einem nahe gelegenen Dorf. Einige Monate vor Jesu Geburt hatte Maria ihre Cousine Elisabeth im „Gebirge von Judäa“ besucht und wurde von ihr willkommen geheißen. Bethlehem lag im Zentrum von Judäa. Als Maria und Josef in