1. KAPITEL
Cumbria, Nordengland, 1814
Einen leisen Fluch auf den Lippen erhob sich Sir Develin Dundrake von dem Stuhl hinter seinem Schreibtisch im Arbeitszimmer von Dundrake Hall. Während er durch den mit Eichenholz getäfelten Raum zu den französischen Türen ging, die auf die Terrasse führten, beobachtete er verwundert, wie eine Frau über den Kiesweg auf seinen Landsitz zumarschierte. Aus ihrer unansehnlichen Aufmachung und der entschlossenen Miene folgerte er, dass es sich um irgendeine Wichtigtuerin aus dem Dorf handelte, die Spenden für einen wohltätigen Zweck sammelte. Weshalb sollte sich auch sonst jemand an einem kalten, nebligen Herbstmorgen wie diesem hinauswagen? Aber fiel dieser Person wirklich nichts Besseres ein, als sich dem Herrenhaus von der Gartenseite zu nähern?
Doch wer sie auch war, und was auch immer sie wollte, es passte ihm gerade gar nicht, belästigt zu werden, ganz gleich, wie edel die Beweggründe auch sein mochten. Er gab bereits eine beträchtliche Summe für eine ganze Reihe von wohltätigen Unternehmungen aus. Überdies hatte er seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen. Er sah wieder hinaus und erschrak fast zu Tode. Die Fremde stand direkt vor der französischen Tür und starrte wie ein Geist durch die Scheiben in sein Arbeitszimmer.
Es handelte sich um einen erstaunlich jungen und keinesfalls hässlichen Geist, ungeachtet der scheußlichen dungfarbenen Pelisse und dem schlaff herabhängenden Strohhut.
Er öffnete die Terrassentür. „Wer sind Sie, und was wollen Sie?“, fragte er barsch.
Die junge Frau zuckte zusammen und wich einen Schritt zurück. Er glaubte schon, sie würde den Rückzug antreten, als sie stolz den Kopf hob. Er blickte in ihr ganz und gar nicht reizloses Gesicht und sah, wie sich ihre bogenförmigen Brauen über den sturmgrauen Augen senkten. Die Flügel ihrer schmalen Nase weiteten sich, und sie kniff die prallen Lippen zusammen. „Guten Morgen, Sir Develin. Sie sind doch Sir Develin Dundrake, nicht wahr?“, fragte sie mit überraschend heiserer Stimme.
„Besucher sollten sich am Hauseingang melden“, erwiderte er unfreundlich und vermied es, ihre Frage zu beantworten.
„Habe ich gerade die Ehre, mit Sir Develin Dundrake zu sprechen?“
Lag da etwa Sarkasmus in ihrer Stimme? „Ja, ich bin Sir Develin“, antwortete er ein wenig freundlicher. Falls sie tatsächlich in wohltätiger Mission unterwegs war, wollte er nicht unhöflich sein, auch wenn sie mit ihrer Vorgehensweise die Etikette missachtete.
„Bitte verzeihen Sie, dass ich nicht am Hauseingang um Einlass gebeten habe“, sagte die junge Frau, wobei ihre Stimme weder Reue noch Bedauern verriet. „Ich hatte vor, zur Vordertür zu laufen, bis ich Sie sah. Da ich in einer sehr persönlichen Angelegenheit zu Ihnen komme, beschloss ich, Sie lieber direkt und ganz privat anzusprechen.“
Das hatte sie also beschlossen. Sie schien nicht zu ahnen, wie wenig er ihre Entschlossenheit zu schätzen wusste