2. KAPITEL
Johann hasste diese Stadt, in der er nicht Fahrrad fahren durfte, weil sein Vater meinte, dass er nicht unverletzt über die große Kreuzung auf dem Schulweg kommen würde. Diese Stadt, in der er nie auf einen Berg oder eine Wiese schaute, sondern fast nur gegen Häuserwände. Er musste schon den Kopf ganz nach hinten biegen, um den Himmel zwischen all den hohen Häusern sehen zu können. Das machte er oft, weil er hoffte, seine Mutter könnte ihm dann in die Augen sehen, auch wenn er selbst sie dort oben nicht entdeckte. Mit seinem Vater wohnte er in einem der modernen Wohnblocks in der Hafencity. Allein der Weg vom Aufzug in die Wohnung im achten Stock dauerte länger als der Weg zur Schule in Himmelstadt. Da nützte es auch nichts, dass sein Vater sagte, dass er hier aber zum Gymnasium laufen könnte, während Himmelstadt so klein war, dass es nur eine winzige Grundschule gab. Aber in der saß immerhin sein bester Freund Leo, den er fast genauso vermisste wie seine Mutter.
„Meinst du, dein Vater kommt gleich?“, fragte Lena, eine Betreuerin aus der Ganztagsschule, die mit Johann auf dem Schulhof wartete, bis er als letztes Kind endlich abgeholt würde.
„Natürlich. Sie brauchen nicht auf ihn zu warten. Ich setze mich einfach vor das Schultor, dann können Sie nach Hause gehen. Wirklich“, antwortete Johann nachdrücklich. Die junge Frau strich ihm über die braunen Locken und schaute ihn mitfühlend an.
„Natürlich lasse ich dich nicht alleine! Und da hinten kommt dein Vater auch schon!“ Sie zeigte in Richtung Schultor. Da entdeckte Johann auch, wie sein großer Vater, der die gleichen braunen Locken hatte wie er, auf den Schulhof schritt, als hätte er einen unangenehmen Gerichtstermin. Der Kragen seines schwarzen Wintermantels war hochgeschlagen, der Blick gesenkt. In der einen Hand hielt er noch seine Laptoptasche. Johann wusste, dass das bedeutete, dass er sich heute Abend wieder einmal weiter an die Arbeit setzen würde. Am liebsten wäre Johann in die Arme seines Vaters gerannt, aber er wartete nur stumm, bis dieser bei ihm war, während Lena sich verabschiedete. Er hatte das Gefühl, sein Vater wäre aus Stein. Wie eine Statue, an der man sich nur stoßen, und dann abprallen würde, wenn man auf sie zurannte. Als Mama noch gelebt hatte, war das ganz anders gewesen.
„Servus Papa“, sagte er nur matt, als der ihn erreicht hatte. Immerhin schob er seine freie Hand in die des Jungen, während sie zusammen zur nächsten U-Bahnstation liefen.
„Können wir am Wochenende nicht mal nach Hause fahren? Ich vermisse Oma und Opa. Und der Weihnachtsmarkt hat bestimmt schon offen“, fragte Johann seinen Vater, als sie fast zu Hause angekommen waren.
„Du weißt genau, dass ich am Samstag auch arbeiten muss. Das neue Hafenquartier plant sich nicht von alleine, und nächste Woche müssen wir die Pläne präsentieren“, antwortete sein Vater und blieb vor ihrem Haus stehen. Sie spiegelten sich in der Eingangstür, die im Gegensatz zu der Tür zu Hause völlig frei von einer persönlichen Note war. Na ja, so richtig schön war der Kranz mit Weihnachtssternen am Ende auch nicht mehr gewesen, der auch ein halbes Jahr nach dem Tod seiner Mutter an der Holztür gehangen hatte.
„Und Sonntag?“, hakte Johann nach.
„Für einen Tag ist der Weg viel zu lang“, entgegnete der Vater.
„Ich könnte auch Freitag in den Zug steigen und allein zu Oma und Opa fahren. Dann könntest du ganz in Ruhe arbeiten.“ Johann gab nicht auf.
„Auf gar keinen Fall. Das ist viel zu gefährlich“, entgegnete er, schaute seinen Sohn an und lächelte auf einmal zaghaft, als wäre ihm gerade aufgefallen, dass er doch eigentlich Glück hatte mit diesem kleinen Jungen.
„Aber weißt du was, Johann? Hamburg hat auch tolle Weihnachtsmärkte. Es gibt einen direkt in der Nähe der Elbphilharmonie. Wir bringen eben Laptop und Schulranzen nach oben, und dann gehen wir dort hin. Was hältst du davon? Wir können dort auch etwas zu Abend essen!“, schlug er vor.
„Okay, gerne“