: Wiebke Bruns, Salina Magdalena Centgraf, Sabine Hampf, Thomas Haudel, Amrei Kluge, Winja Lutz, Renée
: Ralf Vogt
: Das traumatisierte Gedächtnis - Schutz und Widerstand Wie sich traumatische Belastungen in Körper, Seele und Verhalten verschlüsseln und wieder auffinden lassen
: Lehmanns Media GmbH
: 9783865419866
: 1
: CHF 13.50
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: Allgemeines
: German
: 242
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Über traumapsychotherapeutische Methoden wurde schon viel geschrieben. Bisher wurde jedoch kaum erforscht, wie sich psychodynamisch traumatische Vorfälle seelisch abbilden, in Symptomen des Körpers und in mentalen Abbildern codieren - obwohl dieses Thema überaus spannend ist! Wie werden seelisch belastende Daten abhängig vom Alter, der Grausamkeit des Vorfalls oder der Kumulation schrecklicher Ereignisse vom Menschen gespeichert und zusammengefasst? Welche Varianten der Erinnerung stellen uns der Körper, die seelische Mentalität und das menschliche Gedächtnis zur Verfügung? Wie lassen sich verschlüsselte Daten später therapeutisch effektiv - und emotional verträglich - abrufen und entschlüsseln? Das vorliegende Buch ist eine Sammlung von theoretischen und praktischen Beiträgen, die von psychotherapeutisch tätigen Kollegen und von betroffenen Klienten gleichermaßen verstanden werden können. Die anschaulichen Fallbeispiele sind darüber hinaus für alle interessant, die die Logik und Widersprüchlichkeit des Unbewussten spannend miterleben wollen.

1  Theoretische Vorbetrachtungen


1.1  Zeitgeist und Traumagedächtnis


Ralf Vogt

Der Zeitgeist beeinflusst in hohem Maße das alltagspsychologische und psychotherapeutische Denken (vgl. Vogt, 2012, S. 13-15 und Vogt, 2014, S. 6-12). Grund dafür ist meines Erachtens erstens der Stand der relativ jungen Wissenschaftsdisziplin Psychotherapie, in der notwendigerweise viele sich widersprechende Konzepte praktiziert werden und die Kristallisation einer relativ klaren allgemeingültigen, breit akzeptierten Lehrmeinung noch in weiter Ferne liegt. Zweitens wird Psychotherapie in der traditionellen Betrachtung eher als „weiche“ Wissenschaft – im Gegensatz etwa zur Physik oder Medizin – angesehen, obwohl auch diese Wissenschaftsdisziplinen essenzielle Probleme ihres Gegenstandsspektrums, wie die Problematik der Schwarzen Löcher bzw. der Krebsbehandlung, noch nicht lösen konnten. Selbst einem Wetterbericht – mit einer maximalen Treffsicherheitswahrscheinlichkeit von ca. 3 Tagen – vertrauen viele Menschen mehr als einer psychologischen Expertise, an welche man obendrein noch größere Ansprüche stellt und menschliche Verhaltensprognosen mit monatelanger, wenn nicht sogar jahrelanger Gültigkeit erwartet. Warum ist das so? Die meisten Menschen nehmen in Anspruch, über ihre Psyche, ihre innerseelischen Vorgänge mit Motiven, Gefühlen, Denken und Verhalten irgendwie ausreichend Bescheid zu wissen. Vielleicht gemäß einem abgewandelten Decartes-Motto: Ich denke – also weiß ich Bescheid! Oder: Ich vermute – also bin ich! Aber Spaß beiseite. Wir betreten vermintes Gelände. Die Psyche ist ein sensibles Ding, da lässt sich niemand mal schnell etwas sagen. Im Gegensatz zum Arzt oder Naturwissenschaftler, bei welchem die Mitmenschen unserer Zeit schnell gläubig werden.

Bei Auffassungen über die Psyche und ihre Qualitätseigenschaften wie etwa eine Gedächtnisleistung oder Persönlichkeitshaltung steht offenbar mehr das persönliche Selbstkonzept eines jeden auf dem Spiel. Beim Arzt kann man sich in der Regel eine Kritik zur Lebensführung eher ruhig anhören, wie: Dann schälen wir eben künftig die Gurken ab, wenn die Schale industriell gespritzt ist. Kein Problem, die Gurke bleibt im Wesentlichen erhalten. Damit kann man leben, wenn man kein Meerschweinchen ist und sich gerade auf die Schale gefreut hat.

Bei psychologischen Rückmeldungen zur seelischen Verarbeitungskapazität wird die angesprochene Person schnell ungläubig, distanziert, ärgerlich – oder einfach sofort gegenteiliger Meinung sein, weil: Es so ist, und basta! Das heißt, psychologische bzw. psychotherapeutische Hinweise treffen auf eine Form von Halbwissen, welches im Selbst- und Weltbild häufig sofort und vehement verteidigt werden muss. Es geht schließlich um unbewusste Prozesse, und wenn man da nicht Bescheid weiß, bekommt man eine ärgerliche Angst und möchte plötzlich alles so lassen, wie es war, um keine Unruhe zu erleben. Ebenso schnell belastet fühlt sich eine Reihe von Kollegen, wenn sie den Eindruck haben, dass das Ansehen des verdienten Pioniers der Psychoanalyse, Sigmund Freud, infolge der modernen Traumaforschung objektiv unheilbaren Schaden nehmen könnte.

Im Bereich von Technik ist so eine emotionale Stagnationssehnsucht unvorstellbar. Wer möchte heute noch wirklich im ersten Personenkraftwagen von Carl Benz wie vor über 100 Jahren sitzen? Wer käme als Techniker auf die traurige Interpretation, dass wir, wenn wir einfach neue Autos bauen, das Erbe von Carl Benz ignorieren bzw. traditionell Bewährtes einfach übergehen würden? Der Zeitgeist in der Psychoanalyse und Psychotherapie ist da manchmal viel stärker dem Bisherigen verhaftet. Das Festhalten an konservativen Normen hat auch Einfluss auf unser Schulendenken in der Psychotherapie. Und das wiederum beeinflusst auch die schleppende Übernahme traumatherapeutischer Kon