Nachdem Bonhoeffer sich spätestens 1939 zur aktiven Mitarbeit im Widerstand gegen Hitler entschlossen hatte, bemühte er sich darum, das Handeln der Verschwörer theologisch zu begründen und wurde mehr und mehr zum Seelsorger und theologischen Gewissen der am militärischen Widerstand gegen das Nazi-Regime beteiligten Männer. Indem Bonhoeffer stellvertretend für die Mitverschworenen nach der theologischen Begründung ihres Tuns fragte, wurden sie in die Lage versetzt, mit gutem Gewissen ihre ganze Kraft in der Konspiration gegen Hitler einzusetzen. Der Text „Nach zehn Jahren“ entstand zu Weihnachten 1942, kurz vor der Inhaftierung Bonhoeffers. Er stellt eine Art Resümee der Erfahrungen im Widerstand gegen Hitler dar. Bonhoeffer schrieb den Rechenschaftsbericht für seinen Schwager Hans von Dohnanyi, für Hans Oster – leitende Mitarbeiter im Amt Abwehr –, für die Eltern und den Freund Eberhard Bethge. Der Text überdauerte den Krieg versteckt unter den Dachziegeln des Elternhauses in der Marienburger Allee in Berlin.
Zehn Jahre sind im Leben jedes Menschen eine lange Zeit. Da die Zeit das kostbarste, weil unwiederbringlichste Gut ist, über das wir verfügen, beunruhigt uns bei jedem Rückblick der Gedanke etwa verlorener Zeit. Verloren wäre die Zeit, in der wir nicht als Menschen gelebt, Erfahrungen gemacht, gelernt, geschaffen, genossen und gelitten hätten. Verlorene Zeit ist unausgefüllte, leere Zeit. Das sind die vergangenen Jahre gewiss nicht gewesen. Vieles, Unermessliches haben wir verloren, aber die Zeit war nicht verloren. Zwar sind gewonnene Erkenntnisse und Erfahrungen, deren man sich nachträglich bewusst wird, nur Abstraktionen vom Eigentlichen, vom gelebten Leben selbst. Aber wie Vergessenkönnen wohl eine Gnade ist, so gehört doch das Gedächtnis, das Wiederholen empfangener Lehren, zum verantwortlichen Leben. In den folgenden Seiten möchte ich versuchen, mir Rechenschaft zu geben über einiges von dem, was sich uns in diesen Zeiten als gemeinsame Erfahrung und Erkenntnis aufgedrängt hat, nicht persönliche Erlebnisse, nichts systematisch Geordnetes, nicht Auseinandersetzungen und Theorien, sondern gewissermaßen gemeinsam im Kreise Gleichgesinnter gewonnene Ergebnisse auf dem Gebiet des Menschlichen, nebeneinandergereiht, nur durch die konkrete Erfahrung zueinander gehörig, nichts Neues, sondern gewiss in vergangenen Zeiten längst Gewusstes, aber uns neu zu erleben und zu erkennen Gegebenes. Man kann über diese Dinge nicht schreiben, ohne dass das Gefühl der Dankbarkeit für alle in diesen Jahren bewahrte und bewährte Gemeinschaft des Geistes und des Lebens jedes Wort begleitet.
Ob es jemals in der Geschichte Menschen gegeben hat, die in der Gegenwart so wenig Boden unter den Füßen hatten, – denen alle im Bereich des Möglichen liegenden Alternativen der Gegenwart gleich unerträglich, lebenswidrig, sinnlos erschienen, die jenseits aller dieser gegenwärtigen Alternativen die Quelle ihrer Kraft so gänzlich im Vergangenen und im Zukünftigen suchten, – und die dennoch, ohne Phantasten zu sein, das Gelingen ihrer Sache so zuversichtlich und ruhig erwarten konnten wie wir? Oder vielmehr: ob die verantwortlich Denkenden einer Generation vor einer großen geschichtlichen Wende jemals anders em