Vorwort zur Neuausgabe
Wachsender zeitlicher Abstand bedeutet noch nicht notwendigerweise, dass eine historische Epoche uns ferner rückt. Als die vorliegende Geschichte der Weimarer Republik 1993 erstmals erschien, waren seit dem Untergang der ersten deutschen Demokratie sechs Jahrzehnte vergangen. „Weimar“ schien mehr denn je ein abgeschlossenes Kapitel der deutschen Geschichte zu sein. Heute, ein Vierteljahrhundert später, hört man Warnungen vor „Weimarer Verhältnissen“ eher häufiger als damals. Die Historiker streiten zwar längst nicht mehr so leidenschaftlich über die deutsche Geschichte der Jahre von 1918 bis 1933 wie in den Jahrzehnten vor der Wiedervereinigung. In der breiteren Öffentlichkeit aber leben noch immer Geschichtsbilder fort, deren Ursprünge teilweise bis in die Entstehungszeit des Staates zurückreichen, der vor hundert Jahren, im November 1918, aus den revolutionären Kämpfen am Ende des Ersten Weltkriegs hervorging.
Auf der äußersten Linken wird alljährlich in Berlin Mitte Januar der Toten des Januaraufstandes von 1918 gedacht, aber so gut wie nie vom eigentlichen Ziel dieser Erhebung von Teilen der Berliner Arbeiterschaft gesprochen: der Verhinderung der Wahlen zur Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, die die erstrebte Diktatur des Proletariats in weite Ferne zu rücken drohten. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums, der äußersten Rechten, versucht man neuerdings, an das Erbe der „Konservativen Revolution“ anzuknüpfen – jener dezidiert antiliberalen Intellektuellenbewegung der 1920er und frühen 1930er Jahre, die wesentlich zur Zerstörung der parlamentarischen Demokratie beitrug und damit im gebildeten Bürgertum den Boden für die Unterstützung Hitlers bereitete. Im Bundestag gibt es nicht nur eine Partei, die sich als Erbin der deutschen Kommunisten der ersten Republik versteht, sondern seit 2017 auch eine Partei, die sich zwar nicht auf Weimarer Vorläufer beruft, aber doch unübersehbar in der Tradition der damaligen bürgerlichen Rechten, namentlich in ihrer deutschnationalen Spielart, steht.
Von „Weimarer Verhältnissen“ kann dennoch keine Rede sein. Es gibt weder links noch rechts Massenbewegungen, die sich die Beseitigung des demokratischen Verfassungsstaates zum Ziel gesetzt haben, und keine Parteiarmeen, die den Bürgerkrieg proben. Auch nach der Bundestagswahl vom September 2017 ist die Bundesrepublik Deutschland noch immer weit entfernt von einer Demokratiekrise wie nach 1930. Die Auffächerung der Parteienlandschaft macht Regierungsbildungen schwieriger, was sich aber auch als Zeichen einer europäischen Normalisierung Deutschlands verstehen lässt. Da es einen breiten Verfassungskonsens und in den Grundfragen der Europa-, Außen- und Sicherheitspolitik einen soliden Fundus an Gemeinsamkeit zwischen den mittlerweile „klassischen“ demokratischen Parteien gibt, wäre auch eine Regierung, die sich auf wechselnde Mehrheiten stützen muss, anders als in der ersten deutschen Republik nicht gleichbedeutend mit politischer Instabilität. Ein Zwang zu Großen Koalitionen lässt sich aus dem vielzitierten „Weimarer Erfahrungen“ folglich nicht ableiten.
Als sich der Parlamentarische Rat in Bonn im Herbst 1948 anschickte, das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland auszuarbeiten, sah er seine Hauptaufgabe darin, konkrete Schlussfolgerungen aus dem Scheitern der ersten deutschen Republik zu ziehen. Das Ergebnis des Versuches, aus Weimar zu lernen, war die wehrhafte, repräsentative, am Imperativ der Funktionsfähigkeit der Verfassungsorgane orientierte „Kanzlerdemokratie“ des Grundgesetzes. Aller anfänglichen Skepsis zum Trotz erwies sich das Grundgesetz als entscheidender Beitrag zu dem, was man die „Erfolgsgeschichte“ der Bundesrepublik genannt hat. Die vor sieben Jahrzehnten verabschiedete Verfassung war als Provisorium für den westdeutschen Teilstaat gedacht. Doch sie hat sich in der „alten“ Bundesrepublik so bewährt, dass sie, im Kern unverändert, auch heute noch im wiedervereinigten Deutschland gilt.
Kontrovers ist inzwischen nur eine der Lehren, die die Mütter und Väter des Grundgesetzes aus Weimar gezogen haben, nämlich ihre weitgehende Absage an alle Formen von direkter Demokratie. Kritiker dieser Entscheidung pflegen darauf hinzuweisen, dass die erste Republik nicht an einem Zuviel an Plebisziten, sondern an einem Zuwenig an Demokraten im Reichstag gescheitert ist. Doch dieser Einwand ist nur vordergründig richtig, mithin anfechtbar: Die beiden Volksentscheide, die es auf Reichsebene gab – der zur Fürstenenteignung 1926 und der zum Young-Plan 1929 –, trugen nicht nur nicht zur Festigung der Demokratie bei, sie stärkten vielmehr deren Gegner am linken und rechten Rand, das heißt im ersten Fall die Kommunisten, im zweiten die Nationalsozialisten.
Die Gefahr, dass sich bei Volksentscheiden Kräfte zusammenschließen, die sich nur in der Negation einig, zu kons