DER ZWEITE SOHN
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An einem heißen Dienstag im August 1974 tat ein alter Mann in Paris etwas, das er noch nie gemacht hatte: Er erwachte morgens in seinem Bett, aber er stand nicht auf. Er konnte nicht. Sein Name war Laurent Moutier, und er hatte sich zehn Tage lang ziemlich mies und weitere sieben Tage lang wirklich schlecht gefühlt. Seine Arme und Beine kamen ihm dünn und schwach vor, und sein Brustkorb schien aus Beton zu bestehen, der langsam aushärtete. Er wusste, was mit ihm los war. Von Beruf Möbelrestaurator, war aus ihm nun etwas geworden, das Kunden ihm manchmal gebracht hatten: ein aus dem Leim gegangenes, wurmstichig gewordenes altes Erbstück. Dabei litt er an keiner bestimmten Krankheit. Stattdessen versagten alle möglichen Organe gleichzeitig. Dagegen war nichts zu machen. Unvermeidlich. Also lag er geduldig keuchend da und wartete auf seine Haushälterin.
Sie tauchte wie immer um zehn Uhr auf und wirkte weder überrascht noch sehr schockiert. Die meisten ihrer Arbeitgeber waren alt, sodass Krankheiten und Todesfälle nicht selten vorkamen. Sie rief einen Arzt an, und Moutier hörte sie im Lauf des Gesprächs offenbar als Antwort auf eine Frage nach seinem Alter »neunzig« sagen – auf eine befriedigt resignierte Weise, die Bände sprach, als umfasste dieses einzelne Wort einen ganzen Absatz. Das erinnerte ihn daran, wie er in seiner Werkstatt gestanden und Staub und Leim und Firnis eingeatmet hatte, während er ein sich in Wohlgefallen auflösendes Schränkchen begutachtet und »Na, sehen wir’s uns mal an« gesagt hatte, obwohl er in Wirklichkeit schon darüber nachdachte, wie er den Kunden damit heimschicken konnte.
Ein Hausbesuch wurde für den Nachmittag vereinbart, aber wie um die unausgesprochene Diagnose zu bestätigen, fragte die Zugehfreu Moutier nach seinem Adressbuch, damit sie seine nächsten Angehörigen anrufen konnte. Moutier besaß ein Adressbuch, aber keine nahen Angehörigen außer seiner Tochter Josephine, die das kleine Buch trotzdem fast allein ausfüllte, weil sie ständig umzog. Seite um Seite stand voller durchgestrichener Postfachnummern und langer ausländischer Telefonnummern. Die Haushälterin wählte die letzte Nummer und hörte das Summen und Pfeifen großer Entfernungen, bevor sich eine Stimme meldete, die Englisch sprach, das sie nicht verstand, sodass sie wieder auflegte. Moutier sah sie zögern, aber wie um die Diagnose nochmals zu bestätigen, verließ sie dann die Wohnung, um den pensionierten Lehrer zwei Etagen tiefer aufzusuchen – einen schüchternen kleinen Mann, den Moutier immer für einen Kretin gehalten hatte, aber wie großartig musste man als Linguist schon sein, umvotre père va mourir inyour dad is going to die übersetzen zu können?
Die Haushälterin kam mit dem Lehrer zurück, beide vom Treppensteigen ein bisschen außer Atem. Und der kleine Mann rief noch mal dieselbe Nummer an und verlangte Josephine Moutier.
»Nein, Reacher,imbécile«, sagte Moutier mit einer Stimme, die ein kraftvoller Bass gewesen war, aber nun jämmerlich schwach, fast bittend klang. »Sie ist eine verheiratete Reacher. Josephine Moutier kennt dort niemand.«
Der Lehrer entschuldigte sich, verbesserte sich und verlangte Josephine Reacher. Er hörte kurz zu, dann bedeckte er die Sprechmuschel mit der Hand, sah Moutier an und fragte: »Wie heißt der Ehemann Ihrer Tochter? Ihr Schwiegersohn?«
»Stan«, sagte Moutier. »Aber nicht Stanley. Einfach nur Stan. So steht’s in seinem Pass. Das habe ich selbst gesehen. Er ist Captain Stan Reacher vom United States Marine Corps.«