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RASSENSCHANDE
Im Frühjahr 1937 erblühte der Wald bei Breslau mit Farben und Düften. Jeden Morgen genoss ich die fast zwei Kilometer lange Strecke zur lutherischen Bethanien-Schule. Ich war mittlerweile zehn Jahre alt und in der fünften Klasse. Nur weil ich zuvor eine schwere Prüfung bestanden hatte, war ich überhaupt an dieser Schule aufgenommen worden. Hella war dort bereits Schülerin, deswegen mussten wir für mich und aufgrund meiner bestandenen Prüfung keinen zusätzlichen Beitrag zahlen. Vater hatte sich damals bereit erklärt, für Hellas Schulgeld aufzukommen. Für mich aber hätte er das nie getan. Er wäre damit zufrieden gewesen, hätte ich nach der Grundschule aufgehört. Daher hatte ich viel gebetet, Jesus möge mir helfen, die Aufnahmeprüfung ja zu bestehen.
Die Lehrerinnen an dieser Schule waren lutherische Diakonissen, die alle ganz wunderbar und sehr freundlich zu uns waren. Und da ich mich nun geliebt und nicht mehr bedroht und eingeschüchtert fühlte, wurde ich zu einer hervorragenden Schülerin, die alle überraschte, einschließlich Mutter und Hella.
An der Bethanien-Schule erklang weder die Nationalhymne noch wurde die rechte Hand zum Hitlergruß gereckt. Auch die Morgenandacht enthielt keinerlei Huldigungen gegenüber dem Führer. Man fand auch nirgends ein finster dreinblickendes Porträt von ihm und keins der Kinder gehörte der Hitlerjugend an. Für mich war diese Schule eine Oase in der Wüste des Antisemitismus, die es mir erlaubte, ein wenig mehr Selbstwertgefühl zu entwickeln und das Leben Jesu näher kennenzulernen.
Doch noch aufregender als die Bethanien-Schule war es, von der lutherischen St.-Barbara-Kirche in Breslau zu hören. Ihr Pastor, Ernst Hornig5, und seine Vikarin Katharina „Käte“ Staritz, waren besonders bemüht, jüdischen Gläubigen zu helfen. Sie versuchten auch, sie für ein Leben mit Jesus Christus zu gewinnen und ihnen zu helfen, Deutschland zu verlassen. Durch eine zum christlichen Glauben konvertierte jüdische Familie in unserem Haus hatten wir von dieser Kirche erfahren. Und selbst Mutter war einverstanden, diese Kirche einmal zu besuchen, da sie eine winzige Hoffnung auf Freiheit bot.
Um zur St.-Barbara-Kirche zu gelangen, die sich in einem ärmeren Viertel Breslaus befand, mussten wir eine lange Straßenbahnfahrt in Kauf nehmen. Doch die Aussicht auf ein wenig Freiheit lohnte jeden Aufwand und so machten sich Mutter, Hella und ich eines Sonntags auf den Weg. Und ich staunte über Gottes Güte, dass ich nach einer Woche in der Schule nun auch noch am Sonntag in der Kirche mehr über Jesus erfuhr.
Pastor Hornig war ein ergrauender Mann in den Vierzigern, der von seinem mageren Gehalt sechs Kinder ernähren musste. Jedes Mal, wenn er über die Juden sprach, traten ihm Tränen in die Augen. Dass seine Sicht der Dinge die meine bei Weitem überstieg, war mir als Kind natürlich nicht bewusst.
Mutter und Hella waren damit einverstanden, jede Woche zur Kirche zu gehen und mehr über Jesus zu erfahren. Vielleicht auch deswegen, weil meine Mutter die Kirche als Mittel zum Zweck sah, dass sie uns alle eines Tages außer Landes bringen würde. Wie dem auch sei, Jesus fand trotzdem Gelegenheit, ihr Leben zu berühren.
Pastor Hornig wurde für mich zum Ersatzvater. Wann immer ich ihm begegnete, sah er mich mit seinen sanften grauen Augen liebevoll an. Doch in seinen Augen erkannte man auch Furcht, denn er ahnte, dass seine Heimat in Blut baden würde. Dennoch sprach er auch über Hitler, dessen SS-Männer und die Gestapo mit Mitgefühl. Er hielt uns dazu an, dafür zu beten, dass Gottes Geist ihr Leben berühren m