2. KAPITEL
Als Corinne in den Salon zurückkehrte, stand der Mond am Himmel und sandte silberne Strahlen auf die schwarze Wasseroberfläche im Hafen. In der Suite leuchtete eine Bodenlampe und warf einen warmen Schein auf die Chaiselongue beim Fenster. Auf dem gedeckten Esstisch schimmerten Kristall und Silber im Schein der Kerzen. Corinne war erleichtert, als sie die dezente Beleuchtung sah. Das schwache Kerzenlicht würde ihre rot geweinten Augen kaschieren und verbergen, dass die Wimperntusche längst verschwunden war.
Raffaello Orsini rückte ihr den Stuhl zurecht und setzte sich dann ihr gegenüber. Mit einem unmerklichen Nicken ließ er den Kellner wissen, dass der Wein gereicht werden konnte. Doch Corinne schmeckte nichts von dem leichten weißen Burgunder, denn Lindsays Brief hatte sie zutiefst getroffen. Vermutlich würde sie keinen Bissen hinunterbekommen. Inzwischen bereute sie es, die Einladung angenommen zu haben. Sie war nicht nur verwirrt und erschüttert, sondern sah vermutlich wie ein Häufchen Elend aus. Welche Frau würde sich unter solchen Umständen schon wohlfühlen?
Immerhin besaß der Mann so viel Anstand, mit keinem Wort auf ihr Äußeres anzuspielen. Stattdessen plauderte er bei der delikaten Vorspeise witzig und geistreich über seine ersten Erfahrungen als Tourist in der Stadt. Bis das Dessert serviert wurde, hatte Corinne sich im Laufe des mit Sorgfalt zusammengestellten Menüs immerhin so weit entspannt, dass sie tatsächlich etwas von den erlesenen Delikatessen schmecken und ihren Gastgeber näher begutachten konnte.
Dieser Mann strahlte vor allem Selbstsicherheit aus, sein Reichtum war nicht einmal so vorrangig. Auch wenn es offensichtlich war, dass er mehr Geld besaß, als er ausgeben konnte, und über die Macht verfügte, die mit diesem Wohlstand einherging. Eine gefährlich verlockende Kombination. Corinne gefiel sein Scharfsinn. Wenn er lächelte – was er eher selten tat –, dann hätte sie fast den eigentlichen Grund für ihre Anwesenheit vergessen und sich einbilden können, hier säßen nur ein Mann und eine Frau bei einem angenehmen Abendessen zusammen.
Fast. Denn sie wagte es nicht, sich gänzlich zu entspannen. Er war ein vielschichtiger Mann, die faszinierende Verkörperung von Widersprüchen. Die schmale Patek Philippe-Uhr, die handgemachten Schuhe und der maßgeschneiderte Anzug gehörten zum Bild des Finanztycoons, der mit Milliarden jonglierte, und gleichzeitig konnte man sich bei der verhaltenen Kraft seiner breiten Schultern und den durchtrainierten Muskeln gut vorstellen, wie er mit einer Ziege über der Schulter die sizilianischen Berge erklomm. Dennoch war nichts Derbes an ihm, im Gegenteil. Er war das Paradebeispiel eines Mannes von Welt, charmant und attraktiv. Eine Mischung, die eine Frau um den Verstand bringen konnte.
Sie würde auf der Hut sein müssen. Als hätte er ihre Gedanken erraten, ging er plötzlich zum Angriff über.
„Bis jetzt habe ich die ganze Zeit geredet,signora. Nun sind Sie an der Reihe. Erzählen Sie mir etwas Aufregendes von sich, bitte.“
„Da gibt es nicht viel zu berichten, fürchte ich.“ Seine Aufforderung behagte ihr nicht, denn sie konnte sich nicht vorstellen, wohin das führen sollte. „Ich bin eine alleinerziehende Mutter, da bleibt nicht viel Zeit für Aufregendes.“
„Sie meinen, Sie sind zu beschäftigt damit, sich Ihren Lebensunterhalt zu verdienen?“
„So ungefähr, ja.“
„Was machen Sie beruflich?“
„Ich bin Chefköchin.“
„Richtig. Ich erinnere mich wieder, dass meine Frau einmal davon sprach. Sie haben in einem Fünf-Sterne-Restaurant gearbeitet, nicht wahr?“
„Vor der Heirat, ja. Danach blieb ich zu Hause, war Ehefrau und Mutter. Als mein Mann starb, wurde ein … Einkommen notwendig. Also eröffnete ich einen kleinen Partyservice.“
„Führen Sie ihn allein, oder haben Sie Personal eingestellt?“
„Anfangs war ich allein. Doch jetzt ist mein Kundenkreis größer geworden, und ich hole bei Bedarf Aushilfen. Die Essenszubereitung übernehme ich allerdings selbst. Ebenso erwarten meine Kunden, dass ich bei besonderen Anlässen persönlich die Aufsicht führe.“
„Es ist nicht leicht, sein eigener Chef zu sein. Was hat Sie zu dieser Entscheidung gebracht?“
„Es war die perfekte Lösung. So konnte ich immer für meinen Sohn da sein, vor allem, als er noch ein Baby war.“
„Unabhängigkeit und Kreativität bewundere ich an einer Frau.“ Er verschränkte die Finger und warf ihr einen anerkennenden Blick zu. „Und jetzt, wo Ihr Sohn älter ist?“
„Es ist nicht mehr so einfach“, gab sie zu. „Er ist aus dem Alter heraus, wo er sich friedlich in einer Ecke mit seinem Spielzeug beschäftigt, während ich das Büffett für eine sechzigköpfige Hochzeitsgesellschaft vorbereite.“
„Kann ich mir denken.“ Er lächelte verständnisvoll. „Wer passt dann auf ihn auf, wenn Sie sich um die kulinarischen Bedürfnisse von sechzig wildfremden Leuten kümmern?“
„Meine Nachbarin.“ Innerlich wand sie sich bei seiner treffenden Frage. „Eine ältere Frau, Witwe und Großmutter. Sie ist sehr zuverlässig.“
„Aber sicher nicht so liebevoll wie Sie, oder?“
„Kann denn überhaupt jemand eine Mutter ersetzen, Mr. Orsini?“
„Nein. Wie ich zu meinem großen Leidwesen selbst feststellen muss“, antwortete er gedankenverloren, bevor er abrupt das Thema wechselte. „Wie wohnen Sie?“
Pikiert schnappte sie nach Luft. „Nicht in heruntergekommenen Verhältnissen, wie Sie vermutlich annehmen.“ Was mochte Lindsay ihrem Mann über ihre Situation erzählt haben?
„Das war ganz und gar nicht meine Absicht“, stritt er sofort ab. „Ich möchte einfach nur mehr über Sie erfahren. Sozusagen den Hintergrund für ein sehr reizvolles Porträt füllen.“
Etwas beschwichtig erwiderte sie: „Ich habe ein kleines Reihenhaus in einem ruhigen Wohngebiet einige Meilen außerhalb der Stadt gemietet.“
„Mit anderen Worten, in einer sic