1. KAPITEL
Cesario di Silvestri fand keinen Schlaf.
Die Ereignisse der letzten Monate hatten wichtige Entscheidungen von ihm verlangt. Entschlossen hatte er die Spreu vom Weizen getrennt und seine Energien auf das wirklich Wichtige im Leben konzentriert. Er hatte immer unermüdlich gearbeitet, um zu dem immens reichen Tycoon zu werden, der er war, dabei hatte er allerdings ein echtes Privatleben völlig außer Acht gelassen. Der einzige Mensch, dem er vertraute, war sein Cousin Stefano, mit dem er aufgewachsen war.
Sicher, Cesario hatte viele Frauen in seinem Bett gehabt, aber nur eine hatte ihm wirklich etwas bedeutet. Und sie hatte er mit solcher Gedankenlosigkeit behandelt, dass sie ihn für einen anderen verließ. Er war dreiunddreißig Jahre alt und bisher nicht einmal in die Nähe eines Altars gekommen. Was sagte das über ihn aus? War er von Natur aus ein Einzelgänger, oder hatte er einfach nur Beziehungsangst?
Cesario fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. Dieses Philosophieren lag ihm nicht. Er war kein Denker, sondern ein Macher – ein durchtrainierter Sportler, ein dynamischer, kühl kalkulierender Geschäftsmann …
Es hatte keinen Zweck. Cesario gab auf, zog sich Shorts an und lief durch seine prächtige marokkanische Villa, unbeeindruckt von dem Prunk, der zum Lebensstil eines Milliardärs gehörte und der ihm seit Neuestem nichts mehr bedeutete.
Er füllte ein Glas mit kaltem Wasser und trank in großen Schlucken. Wie er schon Stefano gestanden hatte – in seinem Alter hätte er gern ein eigenes Kind gehabt, aber eben nicht mit einer Frau, der nur an Geld lag. Denn eine solche Frau würde die eigenen oberflächlichen Werte ihrem Kind weitergeben.
„Aber es ist doch nicht zu spät für dich, eine Familie zu gründen“, hatte Stefano überzeugt erklärt. „Du solltest das tun, was du willst, nicht das, was du meinst, tun zu müssen.“
Sein Handy klingelte, und Cesario lief wieder nach oben zurück. Wer von seinem Personal hielt es für nötig, ihn mitten in der Nacht anzurufen?
Es waren keine guten Nachrichten. Rigo Castello, sein Sicherheitschef, informierte ihn darüber, dass ein Gemälde, gut eine halbe Million Pfund wert, aus Halston Hall, Cesarios englischer Landvilla, gestohlen worden war. Laut Rigo deutete alles darauf hin, dass ein Angestellter für den Diebstahl verantwortlich war. Kalte Wut überkam Cesario, doch er würde nicht toben, sondern es auf andere Art regeln. Er bezahlte seine Leute großzügig, dafür erwartete er allerdings auch Loyalität. Wenn der Täter gefunden war, würde Cesario dafür sorgen, dass man denjenigen dem Gesetz nach ohne Wenn und Aber verurteilte.
Ein grimmiges Lächeln zog auf seine sinnlich geschwungenen Lippen. Ein Besuch des englischen Herrenhauses war also nunmehr unvermeidlich. Und sicher würde Cesario in den Ställen auch seiner wunderschönen Madonna wiederbegegnen, denn seine Pferde brauchten schließlich ständige Pflege und Betreuung. Anders als alle Frauen, die er kannte, besaß seine englische Madonna eine einzigartige Qualität: Sie war die Einzige, die bisher Nein zu ihm gesagt hatte. Ein Dinner mit ihm, und sie hatte Cesario di Silvestri aus ihrer Erinnerung gelöscht – eine Tatsache, die ihn maßlos ärgerte und frustrierte. Diese Frau würde ihm immer ein Rätsel sein und ein Geheimnis für ihn bleiben.
Die langen Locken in einem praktischen Pferdeschwanz zusammengebunden, murmelte die zierliche Brünette unablässig beruhigende Worte, während sie mit der Schermaschine das verfilzte Fell des ängstlich kauernden Hundes entfernte.
Und je mehr Jess von dem ausgemergelten Körper des Tieres freilegte, desto mehr verhärteten sich die Züge um ihren schönen vollen Mund. Das Leiden wehrloser Tiere hatte sie schon als Kind aufgewühlt, deshalb hatte sie auch Tiermedizin studiert, um zu helfen, wo sie nur konnte.
Ihre freiwillige Helferin, ein hübsches blondes Mädchen, drückte den Hund behutsam auf den Tisch nieder. „Wie steht es mit ihm?“, fragte Kylie besorgt.
Jess warf dem Teenager einen Seitenblick zu. „Nicht allzu schlecht, wenn man sein hohes Alter bedenkt. Wenn ich erst seine Wunden versorgt und ihn ein wenig aufgepäppelt habe, wird es ihm wesentlich besser gehen.“
„Es ist immer schwierig, ein Zuhause für alte Hunde zu finden.“ Kylie seufzte.
„Das kann man nie im Voraus sagen.“ Jess gab sich optimistisch. In den letzten Jahren hatte sie selbst einer ganzen Meute von Hunden ein neues Heim gegeben – alten Hunden, verkrüppelten Hunden, Hunden mit Verhaltensstörungen. Nur wenige Leute holten einen solchen Hund aus dem Tierheim, das wusste sie.
Als Jess die Stelle in der Tierarztpraxis der englischen Kleinstadt Charlbury St Helens angetreten hatte, war sie in die Räume über der Praxis gezogen. Doch als der Seniorpartner beschloss, sich zu vergrößern und in der kleinen Wohnung Büroräume einzurichten, hatte Jess sich eine andere Bleibe suchen müssen. Sie hatte Glück gehabt und ein altes Cottage etwas außerhalb des Städtchens gefunden.
Das Cottage selbst war weiß Gott nichts Besonderes, aber es stand auf einem riesigen Grundstück, auf dem es wiederum mehrere Ställe und Hütten gab. Der Vermieter hatte sich einverstanden erklärt und Jess erlaubt, hier ein kleines Tierheim aufzuziehen. Als Tierärztin verdiente Jess zwar gut, aber sie war praktisch immer pleite, steckte sie doch jeden Cent in Futter und Medikamente für die Tiere. Trotzdem war sie glücklicher, als sie je in ihrem Leben gewesen war. Sie tat nämlich genau das, was sie liebte, und sie wäre auch die Erste, die zugeben würde, dass sie mit Vierbeinern wesentlich besser zurechtkam als mit Menschen.
Bei dem Geräusch eines vorfahrenden Autos steckte Kylie den Kopf zur Tür hinaus. „Dein Vater, Jess.“
Überrascht schaute Jess auf. Robert Martin kam nur selten am Wochenende vorbei. Überhaupt hatte sie in letzter Zeit nur wenig von ihrem Vater gesehen, schien er doch außergewöhnlich beschäftigt mit seiner Arbeit. Normalerweise half er ihr nämlich regelmäßig dabei, Ställe