: Monika Sznajderman
: Die Pfefferfälscher Geschichte einer Familie
: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag
: 9783633758074
: 1
: CHF 30.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 277
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Jahrzehntelang lebte Monika Sznajderman im Schatten des Schweigens. Ihr Vater hatte über seine Odyssee durch die Konzentrations- und Vernichtungslager, seine Flucht und die Rückkehr nach Warschau nie sprechen wollen. Bis die Fotos aus Übersee kamen: Absender waren Verwandte, von deren Existenz sie nichts gewusst hatte. Sie beginnt zu recherchieren. Wenige Dokumente im Stadtarchiv von Radom und der Bericht des einzigen Überlebenden, des Großonkels Eliasz Sznajderman, im Holocaust Museum in Washington - mehr Spuren hat die große Familie in Polen nicht hinterlassen.

Im Gegensatz zu ihnen, »gewöhnlichen Menschen ohne Geschichte«, sind die polnischen Vorfahren der Mutter Angehörige der Oberschicht, national und antisemitisch eingestellte Gutsbesitzer und Unternehmer, die nach den Regeln und Gesetzen ihrer Klasse leben. Monika Sznajderman ist in ihren Recherchen weit fortgeschritten, als sie entdecken muss, dass etwa zur selben Zeit, als ein bekannter Künstler ihre elegante polnische Großmutter auf einem Gemälde verewigte, zweihundertfünfzig Kilometer weiter östlich ihre jüdische Großmutter von Ukrainern erschlagen wurde.

Die Geschichte, die Monika Sznajderman aus Interviews, Briefen, Fotos und veröffentlichten Quellen rekonstruiert, spricht mit seltener Eindringlichkeit von der Tragik des jahrhundertelangen polnisch-jüdischen Zusammenlebens, die nicht nur ihre Familie, sondern die ganze Gesellschaft bis heute nicht loslässt.



Monika Sznajderman, geboren 1959 in Warschau, leitet zusammen mit Andrzej Stasiuk den Verlag Czarne in Wolowiec/Südpolen.

Das Buch von Radom


Die Stadt, von der sie mir erzählten, existierte bereits nicht mehr. Sie wurde zusammen mit den Juden deportiert.

Elie Wiesel,Die letzte Rückkehr (Gesang der Toten)

 

Elie Wiesel reist nicht nach Radom, sondern nach Marmaros-Sighet, »nicht an das Ende der Nacht, sondern zu ihrem Beginn […]. Dorthin, wo alles begann, wo die Welt ihre Unschuld und Gott seine Maske verloren.« Sein Sighet, eine Stadt, die »ihre Vergangenheit verleugnet« hat, doch »ihrem Griff ausgesetzt« ist, erinnert stark an Radom nach dem Krieg: »Verdammt, außerhalb der Zeit zu leben, atmet sie nur noch im Gedächtnis derer, die sie verlassen haben.«4

Es gibt zahlreiche unsichtbare Städte in Polen, doch Radom scheint geradezu getränkt zu sein mit Unsichtbarkeit. Nichts erinnert hier an nichts, nichts passt zu nichts. Baufällige Kammern und Kämmerchen in weitläufigen Höfen von Mietshäusern, die Vorderfront revitalisiert, der Reichtum von Luxusvillen, Katzenkopfpflaster und löchrige Gehsteige, tadellose Knochensteine, rostige Teppichstangen, Studios mit modernen Küchenmöbeln, wild wucherndes Grün, bunte Spielplätze, heruntergekommene Industrieplätze, eine aus Deutschland, vielleicht auch aus Österreich stammende neue Adrettheit, mit Pappe gedeckte, alte, windschiefe Hütten. Plastik erobert und verschlingt wie eine gefräßige Pflanze das altersmorsche Holz und die Steine – die ursprüngliche Materie der Stadt. Es gibt in Radom ein Solarium und ein Fitnesscenter, eine Tankstelle mit Red Bull, R. ‌e. ‌d. ‌d. und Grillanzündern, es gibt einen Supermarkt mit Weißwurst und Schweinekamm. Es gibt Disco und Techno, ein Handelszentrum und eine Kirche, »die sich«, wie der junge Schriftsteller Ziemowit Szczerek schreibt, »zwischen diesem mittel- und osteuropäischen, architektonischen Gestammel von Blocks, Zinshäusern und Einfamilienhäusern, Löchern im Asphalt und gesprungenem Stahlbeton erhebt. Spitz, in einem Kreuz endend, ragt sie aus der Siedlung wie ein kaputter Zahn.« Es ist die ganze moderne Weltin a nutshell, es gibt alles, nur eines nicht – eine greifbare Spur jener, die jahrhundertelang in dieser Stadt gelebt haben und unbemerkt verschwunden sind. Von den Juden der Vorkriegszeit. Von meinen jüdischen Vorfahren. Nach Aussagen des Radomer Schriftstellers und Historikers Marcin Kępa sind vielleicht zwei alte Eichen und ein baufälliges rotes Vorkriegszinshaus in der Kośna, die Kępa, auf Bruno Schulz anspielend, die Radomer Krokodilgasse nennt, die einzigen derartigen Spuren und gleichzeitig Zeugen des Holocaust.

Dabei bräuchte man nur einen Blick auf die Zahlen zu werfen: In der Zeit des Ersten Weltkriegs lebten in Radom über zwanzigtausend Personen jüdischer Herkunft, die beinahe die Hälfte der Stadtbevölkerung ausmachten. In der Zwischenkriegszeit nimmt ihre Zahl stetig zu (natürlich wächst auch die polnische Bevölkerung), und Anfang der dreißiger Jahre waren 32,2 Prozent der Einwohnerschaft Juden. Zum Vergleich: in Warschau waren es 30,1 Prozent, in Wilna 28,2 Prozent und in Krakau 25,8 Prozent. Man müsste nur die Zeugen anhören: Im Jahr 1939 – daran erinnert Ben-Zion Gold in seinem BuchStille vor dem Sturm. Das Leben der polnischen Juden vor dem Holocaust – stellten die Juden ein Drittel der 85 ‌000 Einwohner von Radom. Sie waren mehrheitlich religiös und tief in der Tradition verwurzelt. Auf der Straße hörte man vor allem Jiddisch, die Kinder lernten im Cheder und in der Jeschiwa, in der jüdischen Grundschule und der höheren Schule, in denen religiöse Inhalte dominierten. Im Jüdischen Gymnasium der Gesellschaft der Freunde des Wissens, dem Henoch Hurwicz als Direktor vorstand, waren Bajla Goldberg, Natan Frydman, Mina Rozen und Josek Korman tätig. Unter den Schülern, so schreibt Marcin Kępa, finden sich der streitlustige Benio Kamersztajn, die hübsche Guta Leslau, die schüchterne Niutka Fernebuk und die stolze Lola Frenkiel, in die sich Majer Brykman verliebte. Ist es möglich, dass einer meiner Radomer Vorfahren mit ihnen allen in dieselbe Klasse ging?

Es gab nur sehr wenig