1. KAPITEL
Sie hätte nicht herkommen sollen.
Auf dem Weg in die Stadt hatte Marnie sich immer wieder gesagt, sie sollte umkehren. Es war noch nicht zu spät.
Aber natürlich war es das.
In dem Moment, als Marnie von ihm gehört hatte, waren die Würfel gefallen. Innerhalb von Sekunden hatte sich ihr Leben verändert, war ein Sturm der Gefühle über sie hereingebrochen.
Nikos.
Nikos war wieder da.
Und er wollte sie sehen.
Der Fahrstuhl fuhr in seinem gläsernen Schacht nach oben, aber genauso gut hätte er sie in die Tiefen der Hölle befördern können. Über ihrer Oberlippe hatte sich ein feiner Schweißfilm gebildet. Marnie wischte ihn nicht weg, sie bemerkte ihn nicht einmal.
Mit jeder Faser ihres Körpers war sie auf die nächste halbe Stunde fixiert. Wie sollte sie das nur durchstehen?
Ich muss dich sehen. Es ist wichtig.
Seine Stimme hatte sich kein bisschen verändert. Noch immer schwang in jeder Silbe eine unbändige Selbstsicherheit mit. Natürlich, mittlerweile besaß er Milliarden. Aber selbst mit einundzwanzig Jahren, ohne einen Dollar auf der Bank, hatte Nikos Kyriazis schon dasselbe an Arroganz grenzende Selbstbewusstsein besessen, die Fähigkeit, Befehle zu erteilen.
Eine winzige Sekunde lang hatte Marnie daran gedacht, Nein zu sagen. So viel Zeit war seit damals verstrichen. Was konnte Gutes daraus entstehen, die Vergangenheit wieder aufzuwärmen? Vor allem, da Marnie wusste, wie verwundbar sie ihm gegenüber in ihrem tiefsten Herzen noch immer war. So ausgeliefert.
„Es geht um deinen Vater.“
Um meinen Vater?
Der winzige Teil in Marnie, der schon bei dem Gedanken, Nikos Kyriazis wieder gegenüberzustehen, meilenweit wegrennen wollte, war schlagartig bedeutungslos geworden.
Als Marnie jetzt an ihren Vater dachte, runzelte sie die Stirn. In der letzten Zeit hatte Arthur Kenington sich verändert. War zerstreut geworden. Er hatte auch etwas Gewicht verloren, und das bestimmt nicht, weil er plötzlich einen gesunden Lebenswandel führte. Marnie hatte angefangen, sich Sorgen um ihn zu machen, und Nikos’ überraschender Anruf verstärkte diese Besorgnis noch.
Der Fahrstuhl hielt an, die Türen glitten auf, und zwei Männer, beide trugen Anzüge, traten in die Kabine. Einer von ihnen starrte Marnie einen Augenblick zu lange an, auf diese ganz bestimmte Weise, wenn Leute nicht genau wussten, woher sie ihr Gesicht kannten. Marnie räusperte sich und sah starr geradeaus. Sie versuchte, die Verlegenheit zu verbergen, die sie immer empfand, wenn jemand sie erkannte.
Als sich die Fahrstuhltüren im obersten Stockwerk wieder öffneten, sah sie auf der gegenüberliegenden Wand ein riesiges Schild mit der Aufschrift:KYRIAZIS.
Ihr Herz hämmerte in der Brust.
Kyriazis.
Nikos.
„Oh Gott“, flüsterte sie und hielt einen Augenblick inne, um ruhiger zu werden.
Die mühsam erarbeitete Fähigkeit, ihre innersten Gedanken und Gefühle zu verbergen, hatte sie gründlich verlassen. Ihre normalerweise stets honiggoldene Haut war blass. Ihre Finger zitterten unkontrollierbar.
Sie blinzelte. Ihre großen goldbraunen Augen spiegelten für einen kurzen Moment den Aufruhr in Marnies Innerem wider, bevor es ihr gelang, das unwillkommene Gefühl zu unterdrücken. Sie setzte ein Lächeln auf. Ihre Absätze klapperten, als sie die geflieste Halle durchquerte.
Mehr Aufmerksamkeit, mehr Erkennen.
„Lady Kenington“, sagte die Empfangsdame. Sie betrachtete die Besucherin mit unverhülltem Interesse von dem braunen Haar mit den natürlich blonden Strähnchen über die symmetrischen Gesichtszüge in dem zarten Gesicht bis hin zu dem zierlichen Körper.
„Ja, hallo. Ich habe einen Termin mit …“ Sie zögerte einen winzigen Moment, als wollte sie sich selbst Mut machen, seinen Namen laut auszusprechen. „Nikos Kyriazis.“
„Selbstverständlich.“ Die Empfangsdame warf ihr langes rotes Haar über eine Schulter und deutete auf eine Reihe von Stühlen auf der anderen Seite des Raums. „Es wird nicht lange dauern. Bitte nehmen Sie Platz.“
Unter anderen Umständen hätte Marnie über den nüchternen Empfang nach all der Anspannung gelacht. Den ganzen Morgen über hatte sie jede Sekunde bis zu diesem Augenblick gezählt, und jetzt ließ Nikos sie warten?
Ärgerlich über seine Unpünktlichkeit, presste sie die Lippen zusammen und ging zum Wartebereich hinüber. Die gläserne Wand gab den Blick auf eine spektakuläre Aussicht frei.
Marnie hatte Nikos’ kometenhaften Aufstieg an die Spitze verfolgt, hatte zusammen mit dem Rest der Welt über jeden Erfolg und Triumph in den Zeitungen gelesen. Selbst wenn sie gewollt hätte, wäre es nicht zu vermeiden gewesen. Nikos hatte sich selbst so mühelos in einen Milliardär verwandelt, wie andere Leute sich morgens die Schuhe anzogen. Alles, was er anfasste, wurde zu Gold.
Marnie hatte sich damit zufriedengegeben, ihm in ihren Träumen zu gratulieren. Oder im Internet über ihn zu lesen – außer, wenn sie den Anblick der Bilder von Nikos mit immer anderen Frauen im Arm nicht länger ertragen konnte. Sie waren stets langbeinig, blond, mit großen Brüsten und besaßen die Art von extrovertiertem Selbstbewusstsein, die Marnie nur bewundern konnte. Auch in tausend Jahren würde sie nicht so locker wie diese Frauen sein.
Als wollte sie den Punkt noch einmal betonen, glitt ihre Hand zu dem eleganten Knoten, zu dem sie ihre schulterlangen Haare heute Morgen aufgesteckt hatte. Einige Strähnen hatten sich gelöst. Sie steckte sie sorgfältig wieder fest, dann legte sie die manikürten Hände zurück in den Schoß.
Fast zwanzig Minuten später kam die Empfangsdame zu ihr herüber. „Lady Kenington?“
Marnie sah erwartungsvoll auf.
„Mr. Kyriazis lässt bitten.“
Ach ja, tut er das? Das wird auch Zeit, dachte sie ärgerlich, als sie aufstand und der jungen Frau folgte.
Durch eine zweiflügelige Milchglastür sah sie eine Silhouette, und sie wusste sofort, dass er es war.
„Lady Kenington, Sir“, kündigte die Empfangsdame sie an.
Marnie fühlte sich, als stünde sie nicht nur auf der Schwelle der Tür, sondern zu dem Moment, den sie sich jahrelang in Gedanken ausgemalt hatte. Sie holte tief Luft, dann trat sie mit leicht zitternden Knien in das palastartige Büro.
Würde er noch derselbe sein?
Würde der Funke zwischen ihnen noch lodern?
Oder hatten die vergangenen sechs Jahre ihn vollkommen ausgelöscht?
„Nikos.“
Ihre Stimme klang kühl und gleichgültig, obwohl ihr Herz schmerzhaft gegen die Rippen hämmerte. Er stand am Fenster. Bei der Ankündigung der Rezeptionistin wandte er sich um.
Die sechs Jahre seit ihrer letzten Begegnung waren großzügig mit ihm umgegangen. Das Gesicht, das Marnie so geliebt hatte, war kaum verändert, nur vielleicht noch ein wenig attraktiver durch die Zeichen von Lebenserfahrung und Erfolg. Dunkle Augen, umrahmt von dichten schwarzen Wimpern, die schmale Nase mit dem kleinen Höcker, den er sich nach einem Unfall als Kind zugezogen hatte, und der ausdrucksvolle Mund über einem Kinn mit Grübchen. Nikos’ Wangenknochen waren so ausgeprägt wie damals, als wären seine Züge zu Anbeginn der Zeit aus Stein gehauen worden.
Sein dunkles Haar trug er etwas kürzer, aber immer noch reichte es im Nacken bis zum Kragen und war so dicht und voll, dass sie wie damals mit den Fingern hindurchfahren wollte. In seinen hinreißenden dunklen Augen lag ein Funkeln, das Marnie fast zu verspotten schien.
Unverhüllt ar