Prolog
Chicago, Sommer 1966
Seit Wochen liegt eine drückende Hitze über der zweitgrößten Stadt der USA. Wer kann, verbringt seine Freizeit am Michigansee oder in einem der Freibäder. Bei einem Teil der Jugend herrscht aufgeregte Erwartung, weil Anfang August dieBeatles ein Konzert in Chicago geben werden. Es wird einer ihrer letzten öffentlichen Auftritte sein. Das Geschrei der Fans ist mittlerweile so laut, dass man von der Musik nichts mehr hört. Davon, dass sich das Land in einem Krieg befindet, merkt man kaum etwas. Proteste gibt es nur wenige. Die meisten Amerikaner sindfür diesen Krieg in Vietnam, den sie nur aus Zeitungsmeldungen und von den Bildern im Fernsehen kennen. Es sind Bilder von brennenden Reisfeldern, von Hubschraubern, die zwischen Palmen landen, und Soldaten, die in voller Kampfausrüstung durch hüfthohes Wasser waten. Unter den Soldaten sind auch Afroamerikaner, die man in ihrer Heimat, den USA, immer noch»negroes« nennt, also »Neger«, oder auch verächtlich»nigger«. Sie verteidigen zusammen mit ihren weißen Kameraden die demokratischen Werte ihres Landes und verhindern das weitere Vordringen des Kommunismus in diesem Teil der Welt. So jedenfalls lautet die offizielle Begründung für diesen militärischen Einsatz.
Der Krieg in Vietnam ist für die meisten Amerikaner weit weg. Sehr nah dagegen sind andere Kriege, die in den schwarzen Gettos der amerikanischen Großstädte ausgetragen werden. Sie entzünden sich an der Unzufriedenheit der schwarzen Bevölkerung und am anhaltenden Rassismus in der amerikanischen Gesellschaft. In den »Negervierteln« von New York und Los Angeles war es in den vergangenen Jahren zu blutigen Straßenkämpfen gekommen. Chicago blieb bis jetzt verschont – bis zum 12. Juli 1966.
An diesem Tag wollen sich schwarze Jugendliche in der West Side von Chicago bei den heißen Temperaturen Abkühlung verschaffen. Sie können nicht an den Michigansee und in ihrem Stadtviertel gibt es kein Schwimmbad. Hier gibt es nur Armut, Elend, Drogen, Arbeitslosigkeit und Verbrechen. Sie schaffen es, einen Hydranten aufzudrehen, und springen im Wasserstrahl hin und her. Es dauert nicht lange, bis ein Polizeiauto auftaucht. Ein Polizist dreht den Wasserstrahl wieder ab. Einige Jugendliche wollen ihn daran hindern und werden daraufhin festgenommen.
Kurze Zeit später kommt ein Mann auf das Polizeirevier und erreicht, dass die sechs Jugendlichen gegen Kaution freigelassen werden. Den Mann kennt jeder. Es ist der siebenunddreißigjährige Martin Luther King jr., für viele der moralische Führer des schwarzen Amerika, der Prophet des Widerstands gegen Rassismus. Manche vergleichen ihn mit dem indischen Freiheitskämpfer Mahatma Gandhi oder sogar mit Jesus. Vor zwei Jahren ist ihm der Friedensnobelpreis verliehen worden. Er hätte es eigentlich nicht mehr nötig, sich mit weißen Politikern herumzuschlagen, in Gefängnissen zu sitzen oder sich auf Demonstrationen beschimpfen und mit Steinen bewerfen zu lassen. Er könnte in der Welt herumreisen, Vorträge halten und viel Geld verdienen. Stattdessen wohnt er seit Januar mit seiner Frau und seinen vier Kindern in einer schäbigen Wohnung in Lawnsdale, einem berüchtigten Slumviertel Chicagos. In den letzten Jahr