Er lehnte mit dem Rücken am narbigen Stamm der mächtigen Trauerweide, deren Äste ins Wasser des Sees hingen, und genoss das seltene Glück, völlig allein zu sein. Dies war sein Lieblingsort. Hier konnte er ungestört seine Gedanken schweifen lassen. Hinter dem Vorhang aus Laub fühlte er sich geborgen und sicher, weil er wusste, dass ihm niemand hierherfolgte. Die Jüngeren entfernten sich nie so weit vom Haus, aus Angst vor den Strafen, die es unweigerlich geben würde, wenn man erwischt wurde. Die Älteren waren zu faul, so weit zu laufen, erst recht an einem so warmen Tag wie heute. Sie hingen am liebsten herum, rauchten heimlich, hörten Musik, drangsalierten die Kleinen und machten sich gegenseitig fertig, bis zum Schluss irgendwer heulte, meistens eins der Mädchen. Er hasste sie. Alle. Aber am meisten hasste er IHN. Wenn er nicht rechtzeitig zurück war, würde ER ihn bestrafen. Manchmal, wenn ER gut gelaunt war, gab es nur eine Tracht Prügel. War ER schlecht gelaunt, wurde es schlimmer. Viel schlimmer. Er spürte, wie sein Mund trocken wurde vor Angst, nur beim Gedanken daran, und er zwang sich, an andere Dinge zu denken. Am liebsten dachte er an Mama, seine schöne Mama, die so weit weg war. Sie roch so gut. Und wenn sie ihn umarmte, ihn »mein kleiner Prinz« nannte und mit ihm in den Zoo ging oder in ein vornehmes Café in Frankfurt, dann war er glücklich. Früher hatte er geglaubt, was sie ihm versprach, wenn sie ihn besuchen kam. Nämlich, dass sie ihn bald, ganz bald, zu sich holen würde und sie dann eine richtige Familie wären. Immer wenn es besonders schlimm war, hatte er sich ausgemalt, wie es wäre, bei Mama zu wohnen. Er hatte nicht verstanden, warum er hier sein musste, aber der Gedanke, dass es nur vorübergehend war und sie ihn bald holen würde, hatte ihn getröstet und alles ertragen lassen. Manchmal hatte er befürchtet, sie würde ihn vergessen, aber dann kam sie wieder und alles war gut. Wenigstens für ein paar Stunden. Als er noch kleiner war, hatte er beim Abschied geweint und sich an sie geklammert, weil er nicht wollte, dass sie wieder wegfuhr und ihn zurückließ. Das machte er jetzt nicht mehr, schließlich war er schon dreizehn, da heulte man nicht mehr wie ein Baby.
Noch immer hoffte er insgeheim, dass sie ihr Versprechen irgendwann wahr machen würde. Immerhin hatte er eine Mama. Die anderen nich