: Honoré de Balzac
: Honoré de Balzac - Gesammelte Werke Romane und Geschichten
: Null Papier Verlag
: 9783962815226
: Gesammelte Werke bei Null Papier
: 3
: CHF 8.70
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: Hauptwerk vor 1945
: German
: 10854
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Balzac wollte in seinem Werken ein Gesamtbild der Gesellschaft im Frankreich seiner Zeit aufzeichnen. Er nahm (schriftstellerisch) nie ein Blatt vor den Mund. Balzac liefert in seinen Werken nicht immer - sogar selten - die heile romantische Welt. Seine Texte sind immer voller Leben. Mit seiner relativ ungeschminkten Darstellung der gesellschaftlichen Realität prägte Balzac Generationen nicht nur französischer Autoren und bereitete den Naturalismus vor. In dieser Sammlung finden Sie seine wichtigsten Werke: Glanz und Elend der Kurtisanen Die drolligen Geschichten des Herrn von Balzac Die alte Jungfer Menschliche Komödie - Die Bauern Die dreißig tolldreisten Geschichten Die Frau von dreißig Jahren Die Geheimnisse der Fürstin von Cadignan Die Grenadière Die Kleinbürger Die Königstreuen Die Lilie im Tal Die Messe des Gottlosen Ein Drama am Ufer des Meeres Eine dunkle Geschichte Die Sorgen der Polizei Corentins Rache Ein politischer Prozeß unter dem Kaiserreich Eine Episode aus der Zeit der Schreckensherrschaft Eine Evatochter El Verdugo Katharina von Medici Kleine Leiden des Ehestandes Lebensbilder u.v.a; mehr als 15.000 Seiten (PDF-Version) Null Papier Verlag

Honoré de Balzac (geb. 20. Mai 1799 in Tours; gest. 18. August 1850 in Paris) war ein französischer Schriftsteller. In den Literaturgeschichten wird er, obwohl er eigentlich zur Generation der Romantiker zählt, mit dem 17 Jahre älteren Stendhal und dem 22 Jahre jüngeren Flaubert als Dreigestirn der großen Realisten gesehen. Sein Hauptwerk ist der rund 88 Titel umfassende, aber unvollendete Romanzyklus La Comédie humaine (dt.: Die menschliche Komödie), dessen Romane und Erzählungen ein Gesamtbild der Gesellschaft im Frankreich seiner Zeit zu zeichnen versuchen.

Vor­wärts, du De­pu­tier­ter der Mit­te, im­mer vor­wärts! Wir müs­sen ei­lig wei­ter, wenn wir zu­sam­men mit den an­dern bei Tisch sein wol­len. Heb die Bei­ne! Spring, Mar­quis! Hier­her! So ist’s gut! Sie sprin­gen über die Grä­ben wie ein rich­ti­ger Hirsch!«

Die­se Wor­te wur­den von ei­nem fried­lich am Wal­des­ran­de von Ile-Adam sit­zen­den Jä­ger ge­spro­chen, der eine Ha­van­na­zi­gar­re zu Ende rauch­te und auf sei­nen Ge­nos­sen war­te­te, der je­den­falls schon seit lan­gem in dem Busch­werk des Wal­des her­um­ge­irrt war. An sei­ner Sei­te sa­hen vier jap­pen­de Hun­de eben­so wie er die Per­son, an die er sich wand­te, an. Um zu ver­ste­hen, wie spöt­tisch die­se An­re­den, die mit Pau­sen wie­der­holt wur­den, ge­meint wa­ren, muß er­wähnt wer­den, daß der Jä­ger ein di­cker kur­z­er Mann war, des­sen her­vor­ste­hen­der Bauch eine wahr­haft mi­nis­te­ri­el­le Fett­lei­big­keit ver­riet. Müh­se­lig über­sprang er die Fur­chen ei­nes großen, frisch ab­ge­ern­te­ten Fel­des, des­sen Stop­peln sicht­lich sein Vor­wärts­kom­men hin­der­ten; um sein Un­be­ha­gen noch zu stei­gern, trie­ben die Son­nen­strah­len, die sein Ge­sicht schräg tra­fen, di­cke Schweiß­trop­fen dar­auf her­vor. Be­müht, sein Gleich­ge­wicht zu be­wah­ren, wank­te er bald nach vorn, bald nach rück­wärts und ahm­te so die Sprün­ge ei­nes stark ge­schüt­tel­ten Wa­gens nach. Es war ei­ner der Sep­tem­ber­ta­ge, wo die Wein­trau­ben bei süd­li­cher Glut rei­fen. Die Luft kün­dig­te ein Ge­wit­ter an. Ob­gleich sich mehr­fach große Stre­cken blau­en Him­mels noch am Ho­ri­zont von di­cken schwar­zen Wol­ken ab­ho­ben, sah man doch einen blas­sen Dunst mit er­schre­cken­der Schnel­lig­keit vor­drin­gen, der sich von Wes­ten nach Os­ten aus­brei­te­te wie ein leich­ter grau­er Vor­hang. Der Wind be­weg­te sich nur in den obe­ren Re­gio­nen der Luft, die At­mo­sphä­re drück­te nach un­ten hin die glü­hen­den Aus­dün­nun­gen der Erde zu­sam­men. Heiß und schwei­gend schi­en der Wald zu dürs­ten. Die Vö­gel und In­sek­ten wa­ren ver­stummt, die Wip­fel der Bäu­me rühr­ten sich kaum. Die­je­ni­gen, die noch eine Erin­ne­rung an den Som­mer 1819 ha­ben, müs­sen also Mit­leid emp­fin­den mit den Lei­den des ar­men De­pu­tier­ten, der Blut und Was­ser schwitz­te, um sei­nen bos­haf­ten Ge­fähr­ten wie­der zu er­rei­chen. Wäh­rend er sei­ne Zi­gar­re rauch­te, hat­te die­ser aus der Stel­lung der Son­ne be­rech­net, daß es etwa fünf Uhr nach­mit­tags sein müs­se.

»Wo zum Teu­fel sind wir denn? sag­te der di­cke Jä­ger, wäh­rend er sich die Stirn ab­trock­ne­te und sich an einen Baum­stamm, fast ge­gen­über sei­nem Ge­fähr­ten, stütz­te, denn er ver­spür­te nicht mehr die Kraft in sich, den brei­ten Gra­ben, der ihn von ihm trenn­te, zu über­sprin­gen.

»Und das fragst du mich? ant­wor­te­te la­chend der Jä­ger, der sich in dem ho­hen gel­ben Gra­se ge­la­gert hat­te, das den Ab­hang be­krön­te. Er warf den Rest sei­ner Zi­gar­re in den Gra­ben und rief: »Ich schwö­re bei Sankt Hu­ber­tus, daß man mich nicht wie­der da­bei er­wi­schen wird, wie ich mich in un­be­kann­ter Ge­gend mit ei­ner Amts­per­son her­um­trei­be, und wärst du es selbst, mein lie­ber d’Al­bon, ein al­ter Schul­ka­me­rad!«

»Aber Phil­ipp, ver­stehst du denn nicht mehr Fran­zö­sisch? Du hast je­den­falls dei­nen Geist in Si­bi­ri­en ge­las­sen«, ent­geg­ne­te der di­cke Mann und warf einen ko­mi­schen Schmer­zens­blick auf einen Pfos­ten, der hun­dert Schrit­te da­von sich er­hob.

»Ich ver­ste­he«, er­wi­der­te Phil­ipp, nahm sei­ne Flin­te, er­hob sich plötz­lich, sprang mit ei­nem ein­zi­gen Satz in das Feld hin­über und eil­te zu dem Pfos­ten hin. »Hier­her, d’Al­bon, hier­her! Halb­links!« rief er sei­nem Ge­fähr­ten zu und zeig­te ihm mit ei­ner Hand­be­we­gung einen brei­ten ge­pflas­ter­ten Weg. »Von Bail­let nach Ile-Adam« fuhr er fort; »dann wer­den wir also in die­ser Rich­tung den Weg nach Cassan fin­den, der sich von dem nach Ile-Adam ab­zwei­gen muß.

»Das stimmt, mein lie­ber Oberst , sag­te Herr d’Al­bon und setz­te sei­ne Müt­ze, mit der er sich Luft zu­ge­fä­chelt hat­te, wie­der auf den Kopf.

»Also vor­wärts, mein ver­eh­rungs­wür­di­ger Rat, er­wi­der­te der Oberst Phil­ipp und pfiff den Hun­den, die ihm schon bes­ser zu ge­hor­chen schie­nen als dem Be­am­ten, dem sie ge­hör­ten.

»Wis­sen Sie, mein Herr Mar­quis,« be­gann der Of­fi­zier spot­tend, »daß wir noch mehr als zwei Mei­len vor uns ha­ben? Das Dorf, das wir dort un­ten se­hen, muß Bail­let sein.

»Gro­ßer Gott!« rief der Mar­quis d’Al­bon aus, »ge­hen Sie nach Cassan, wenn Ih­nen das Ver­gnü­gen macht, aber Sie wer­den dann ganz al­lein ge­hen. Ich zie­he vor, hier trotz des Ge­wit­ters ein Pferd ab­zu­war­ten, das Sie mir aus dem Schloß schi­cken wer­den. Sie ha­ben sich über mich mo­kiert, Sucy. Wir hät­ten einen net­ten klei­nen Jagd­aus­flug ma­chen, uns nicht von Cassan ent­fer­nen, die Ter­rains, die ich ken­ne, ab­su­chen sol­len. Na, an­statt daß wir un­sern Spaß da­bei ha­ben, las­sen Sie mich wie einen Jagd­hund seit vier Uhr mor­gens lau­fen, und wir ha­ben als gan­zes Früh­stück nur zwei Tas­sen Milch ge­habt! Ach, wenn Sie je­mals einen Pro­zeß bei Ge­richt ha­ben soll­ten, dann wer­de ich Sie ihn ver­lie­ren las­sen, wenn Sie auch hun­dert­mal Recht hät­ten!«

Und mut­los setz­te sich der Jä­ger auf einen der Stei­ne am Fuße des Pfos­tens, leg­te sei­ne Flin­te und sei­ne lee­re Jagd­ta­sche ab und stieß einen lan­gen Seuf­zer aus.

»So sind dei­ne De­pu­tier­ten, Frank­reich!« rief der Oberst von Sucy la­chend. »Ach, mein ar­mer Al­bon, wenn Sie, wie ich, sechs Jah­re tief in Si­bi­ri­en ge­we­sen wä­ren! …

Er vollen­de­te den Satz nicht und blick­te zum Him­mel auf, als ob sei­ne Lei­den ein Ge­heim­nis zwi­schen Gott und ihm wä­ren.

»Vor­wärts! Wei­ter!« füg­te er hin­zu. »Wenn Sie hier sit­zen blei­ben, sind Sie ver­lo­ren.«

»Was wol­len Sie, Phil­ipp? Das ist so eine alte Ge­wohn­heit bei ei­nem Be­am­ten! Auf Ehre, ich bin voll­kom­men er­schöpft! Wenn ich we­nigs­tens noch einen Ha­sen ge­schos­sen hät­te!«

Die bei­den Jä­ger bo­ten einen sel­te­nen Ge­gen­satz dar. Der De­pu­tier­te war ein Mann von zwei­und­vier­zig Jah­ren und schi­en nicht äl­ter als drei­ßig zu sein, wäh­rend der drei­ßig­jäh­ri­ge Of­fi­zier we­nigs­tens vier­zig alt zu sein schi­en. Bei­de tru­gen die rote Ro­set­te, das Ab­zei­chen der Of­fi­zie­re der Ehren­le­gi­on. Et­li­che Lo­cken, schwarz und weiß wie der Flü­gel ei­ner Els­ter, stahlen sich un­ter der Jagd­müt­ze des Obers­ten her­vor; schö­ne blon­de Haar­wel­len schmück­ten die Schlä­fen des Rich­ters. Der eine war von ho­hem Wuchs, ma­ger, schlank, ner­vös, und die Run­zeln sei­nes wei­ßen Ge­sichts deu­te­ten auf furcht­ba­re Lei­den­schaf­ten oder schreck­li­che Lei­den; der an­de­re be­saß ein von Ge­sund­heit strah­len­des Ge­sicht mit dem jo­via­len, ei­nes Epi­kurä­ers wür­di­gen Aus­druck. Bei­de wa­ren stark von der Son­ne ver­brannt, und ihre ho­hen Wild­le­der­ga­ma­schen tru­gen die Merk­ma­le al­ler Grä­ben und Sümp­fe, die sie pas­siert hat­ten, an sich.

»Los!« rief Herr de Sucy,...