: Kurt Tucholsky
: Schloß Gripsholm Roman einer Sommerreise
: Books on Demand
: 9783752821086
: 1
: CHF 2,70
:
: Erzählende Literatur
: German
: 162
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Kurt Tucholsky stellt seinem Roman »Schloss Gripsholm« von 1931 einen fiktiven Briefwechsel mit seinem Verleger Ernst Rowohlt voran. Rowohlt ermuntert Tucholsky, eine nette und nicht zu anspruchsvolle Liebesgeschichte zu schreiben, die kommerziellen Erfolg verspricht. In der darauffolgenden Romanhandlung entzieht sich Kurt Tucholsky erwartungsgemäß dem Gebot des Verlegers und lässt seine Charaktere durchaus tief, manchmal fast melancholisch über die natürliche Endlichkeit der Vorzüge eines Urlaubs räsonieren. Während ihres Aufenthalts in Schweden haben sich der Ich-Erzähler Peter und seine Freundin Lydia in einem Anbau des bekannten Schlosses Gripsholm einquartiert. Sie verleben dort unbeschwerte Tage. Sowohl Peter als auch Lydia bekommen Besuch von Freunden. Auf einem Spaziergang treffen sie ein Kind aus einem Kinderheim, das ihnen von den schweren Lebensumständen im Heim erzählt. Am Ende des Urlaubs befreien sie das Kind aus dem Heim. Der Bestseller »Schloss Gripsholm« wurde für Kurt Tucholsky zu einem großen Erfolg. Der Roman wurde mehrfach verfilmt.

Zweites Kapitel


All to min Besten, sä de Jung – dor slögen se em den Stock upn Buckel entzwei.

Das Kind stand am Fenster und dachte so etwas wie: Wann hört dies auf? Dies hört nie auf? Wann hört dies auf?

Es hatte beide Arme auf das Fensterbrett gestützt, das durfte es nicht – aber es war für einen Augenblick, für einen winzigen, gestohlenen Augenblick, allein. Gleich würden die andern kommen; man spürte das zuerst im Rücken, der nun der Tür zugewendet war, der Rücken kitzelte erwartungsvoll. Wenn die andern kommen, ist es aus. Denn dann kommt sie.

Das kleine Mädchen schüttelte sich: es war wie die schnelle leise Bewegung eines Hundes, der Wasser abschüttelt. Das, was das Kind bedrückte, brauchte es nicht erst zu überdenken: es saß inmitten seiner kleinen Leiden wie auf einem Lotosblatt, zwischen andern Lotosblättern, und alle runden Blätter sahen es an – das Kind in der Mitte. Und es kannte sie alle, seine Leidensblätter.

Die andern Kinder – sein Spitzname »Das Kind« – dieses Kinderheim in Schweden – der tote Will, und nun stieg die Kurve der Furcht siedend-rot nach oben: Frau Adriani, die rothaarige Frau Adriani – und dahinter dann das Traurigste: Mutti in Zürich. Es war zuviel. Das Kind zählte neun Jahre – es war zuviel für neun Jahre. Nun weinte es das bitterste Weinen, das Kinder weinen können: jenes, das innerlich geweint wird und das man nicht hört. Trappeln. Schurren. Türenklappen. Kein Wort: eine stumme Schar näherte sich. Also war sie dabei. Du großer Gott –

Die Tür öffnete sich majestätisch, als habe sie sich allein aufgetan. Im Rahmen stand die Frau Direktor, der »Teufelsbraten«: die Adriani. Ihren Beinamen hatte sie von ihrem Lieblingsschimpfwort.

Sie war nicht sehr groß: eine stämmige, untersetzte Person, mit rötlichem Haar, graugrünlichen Augen und fast unsichtbaren Augenbrauen. Sie sprach schnell und hatte eine Art, die Leute anzusehn, die keinem gut tat...

»Was machst du hier?« Das Kind duckte sich. »Was du hier machst?« Sie ging dabei auf die Kleine zu und gab ihr eine Art Knuff gegen den Kopf – es war nicht einmal eine Ohrfeige; der Schlag ignorierte, daß da ein Kopf war: er verfügte nur über das vorhandene Material. Zufällig war es ein Kopf. »Ich habe ... ich ... ich bin...« – »Du bist ein Teufelsbraten«, sagte die Adriani. »Drückst dich hier oben herum, während unten geturnt wird! Heute abend kein Essen. In die Schar!« Das Kind schlich unter die andern; sie machten ihm hochmütig und mit artigem Abscheu Platz.

Dies war eine Kinderkolonie, Läggesta, in der viele deutsche Kinder waren und auch einige schwedische und dänische. Frau Adriani nützte ihr Besitztum am Mälarsee auf diese Weise gut aus. Zwei Nichten halfen ihr bei der Arbeit: die eine, wie ein Ableger der Tante, gehaßt und gefürchtet wie sie; die andre sanft, aber unterdrückt und furchtsam; sie versuchte zu mildern, wo sie konnte – es gelang ihr selten. Wenn die Alte ihre Tage hatte, waren die beiden Nichten nicht zu sehen. Sie hatte vierzig Kinder.

Sie hatte keine Kinder. Und die vierzig hatten es nicht gut. Die Frau plagte sich viel um die Kinder; aber sie war hart z