Natalie Zoghbi
Kirschbaumblut
H auptkommissarin Yasmina El Giamal geht mit großen Schritten über die mit gefallenen Früchten übersäte Obstwiese. Sie ist auf dem Weg zu einem Mordopfer, das ist klar. Und genau das lässt sie jedes Mal erschaudern, wenn sie trotz aller Vorsicht mit ihren neuen Wildlederstiefeln auf eine überreife Kirsche tritt, die unter ihrem Fuß nachgibt und zerplatzt.
»Kirschbaumblut«, fährt es ihr durch den Kopf, als neuerlich Fruchtfleisch unter ihrem Schuh birst und den Absatz rot besprenkelt. Sie hält inne. In einer für Stadtmenschen unglaublichen Ferne sieht sie bereits den abgesperrten Tatort und ihre Kollegen von der Spurensicherung, welche in ihren weißen Schutzanzügen wie Schafe auf der Weide wirken. Einen Moment gibt sie sich der Träumerei hin, am Ort des Geschehens ein ebenso friedliches Bild vorzufinden: schneeweiße Gebeine auf grünem Grund, umrankt von Gräsern und umrahmt von blutstropfengleichen Kirschen.
Yasmina blinzelt ins Licht. Schluss mit den Tagträumen. Schnelleren Schrittes setzt sie ihren Weg fort, nicht jedoch ohne noch einmal laut und von Herzen zu fluchen, als sie gleich beim ersten Schritt erneut auf nachgiebig schmatzendes Fruchtfleisch tritt.
Der Anblick, der sich ihr bietet, lässt sie sich ihren Tagtraum zurück sehnen. Das, was von dem Mädchen übrig ist, liegt keineswegs harmonisch in der Natur, vielmehr verdreht und verkrümmt, mit gelben Fetzen teils ledriger, teils schwammiger Haut und gebleckten Zähnen; Lippen, Ohren und Augen fort, vermutlich von hungrigen Vögeln aufgepickt, die vielleicht nicht einmal bemerkten, dass es sich dabei nicht um Kirschen handelte.
»Wie bitte?«
Mal wieder hat Yasmina ob ihrer Überlegungen nicht alles mitbekommen, was ihr die Kollegen berichten. Dass dies der Ort des Geschehens ist, das schon. Das Mädchen fiel und wurde seitdem nicht mehr bewegt. Dass es sich vermutlich um die Tochter des Grundstückseigentümers handelt, auch. Und dass das Mädchen zuletzt vor zwei Jahren im Ort gesehen wurde, bevor sie vermeintlich mit ihrem Freund das Weite suchte. Sowas wissen die Dorfpolizisten, damit können sie dienen. Aber warum jetzt eine fremde junge Frau die Leiche gefunden hat und die Wiese nicht vom Eigentümer selbst inspiziert und bewirtschaftet wird, muss Yasmina nachfragen.
Marie Jäger, die Finderin der Toten, deren Grundstück an die Obstwiese grenzt, ist eine rothaarige Schöne Anfang dreißig, die Yasmina ein wenig an Ronja Räubertochter aus der Astrid Lindgren Geschichte erinnert. Neue Landflucht nennt man das, was sie, ihr Mann und die zwei Kinder gemacht haben. Weg von Lärm und Schmutz, hin zu einer Gegend, die günstig und ruhig und romantisch ist und wo man zu sich selbst finden kann oder zu was auch immer man gerade sucht. Frau Jäger sucht Selbstbestimmung und Ursprünglichkeit. Sie stellt Marmeladen und Liköre her, aus selbst angebautem Obst, und verkauft die Sachen in einem hippen Onlineshop an eben jene Leute, die so denken wie sie, aber den Sprung raus aus der Großstadt nicht wagen. Und Frau Jäger blutete das Herz, jedenfalls drückt sie selbst sich so aus, als sie all die Äpfel, Pflaumen und Kirschen auf dem Nachbargrundstück verderben sah. Mit Holger Dauning, dem Eigentümer des ertragreichen Grundstücks, hat sie zu sprechen versucht. Doch er hat sie mit Schimpf und Schande weggeschickt. Die junge Frau schüttelt verständnislos den Kopf und vergräbt die Hände in der abgewetzten, aber sicher nicht günstigen Jeanslatzhose. Darum ist sie trotz fehlendem Einverständnis auf die Wiese gegangen und hat das Obst aufgesammelt. Sie hält kurz in ihrem Bericht inne, zuckt dann aber trotzig die Achseln.
»Schon klar, dass das nicht in Ordnung war, gesetzlich und so. Aber ich dachte halt, dass es eh niemanden kümmert, wo der Alte doch nicht mal selbst hier rauskommen kann, wegen dem Rollstuhl. Und Mitarbeiter hat er auch keine.« Sie sieht Yasmina auffordernd und zugleich etwas kleinlaut mit dunkelblau funkelnden Augen an. Yasmina legt ihr aufmunternd die Hand auf den tätowi