: Ronnith Neuman
: Hadeskinder Ein Korfu-Krimi
: Größenwahn Verlag
: 9783957712134
: 1
: CHF 11.60
:
: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 350
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
In der Burgruine Angelokastro wird der Leichnam eines Jungen gefunden. Sein Körper in einer bizarren Stellung. Ein ungewöhnlicher Fall für das Ermittler-Duo Stelios Angelis und Stefania Stefanidou, die innerhalb der korfiotischen Polizei eine Einheit für Kapitalverbrechen bilden. Ihre Untersuchungen bringen frühere Todesfälle ans Licht, darunter eine ähnliche Mordinszenierung in München, Ende der 1980er Jahre. Haben es die jungen Beamten hier tatsächlich mit ein und demselben Täter zu tun, der unerkannt über Jahrzehnte hinweg an weit auseinanderliegenden Orten extravagante Morde begeht? Bevor das Puzzlespiel für die Ermittler überhaupt beginnen kann, sorgt eine neue Leiche für noch mehr Verwirrungen. Und eine mysteriöse Figur ist Zeuge des Geschehens: 'Ich habe mich zu den Gaffern gesellt ... hinter ein paar großgewachsenen Jugendlichen in Sportkleidung, die eifrig über das spekulieren, was sie in der Ruine vermuten ... weit genug, um sich vor den Augen der Polizisten zu verstecken. Ich genieße diese Perspektive. Das Verborgene ... Oh ja, ich habe ein Recht darauf, es zu genießen. Nur für wenige Augenblicke, bevor ich ... Doch das kann warten. Alles hat Zeit. Ich lasse mir diese Zeit. Ich kann es mir leisten. Ich darf das ...' Ronnith Neuman, die mit ihrem Ehemann seit Jahrzehnten auf Korfu lebt, kennt sich bestens mit den Gegebenheiten der Insel aus. Ihr Korfu-Krimi ist eine Ode an ihre Wahlheimat im ionischen Meer und die Handlung eine Hymne an die griechische Mythologie. Dieser erste Fall ist der Auftakt zur Korfu-Krimi-Reihe beim Größenwahn Verlag. Ein spannender Griechenland-Urlaubskrimi mit unerwartetem Finale.

Ronnith Neuman, 1948 in Haifa/Israel geboren, kam sie 1958 mit ihren Eltern nach Deutschland. Nach ihrem Abitur in Frankfurt am Main absolvierte sie eine Ausbildung zur Fotografin. Sie arbeitete u.a. beim Hessischen und Norddeutschen Rundfunk. Sie hat zahlreiche Veröffentlichungen vorzuweisen und erhielt viele Preise, u.a. 1986 den>Hamburger Literaturpreis< für Kurzprosa und 1995 den>Herforder Kulturpreis<. Sie ist mit Günter Hagedorn verheiratet und lebt als freiberufliche Fotografin und Autorin auf Korfu.

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Korfu, September 2012


Stefania Stefanidou stülpte die Überzieher über ihre Schuhe, schlüpfte in ihre kühlen Nitrilhandschuhe und betrat hinter Stelios Angelis die Ruine von Angelokastro. Sie musste unwillkürlich den Atem anhalten, und auch jetzt, nachdem sie das Geschehen grob erfasst hatte, entwich die Luft nur sehr langsam aus ihren Lungen. In dem jahrhundertealten verwitterten Gemäuer an der Nordwestspitze der Insel wirkten sie beide wie riesige Schatten, die sich über die kleine Gestalt beugten, die rücklings langgetreckt, mit ausgebreiteten Armen und Beinen auf dem lehmigen Steinboden lag.

Durch ein hohes schmales Seitenfenster brach auf einmal morgendlich frühe Septembersonne. In dem scharfen Lichtstrahl tanzten Staubpartikel und verstärkten auf vielleicht barmherzige Weise das Unwirkliche der Szenerie. Stefania machte einen unachtsamen Schritt nach vorn und prallte gegen Stelios, der im selben Moment zurückwich. Stelios fuhr erschrocken zusammen, Stefania drückte ihre Hand sanft gegen sein Schulterblatt. Die Zeit schien still zu stehen, während sie schweigend auf das hinunter starrten, was da vor ihnen am Boden lag.

»Mein Gott, was für ein Alptraum …«, flüsterte Stelios.

Ich wollte, es wäre einer, dachte Stefania. Nur ein Alptraum. Ich wollte, ich könnte hinaus spazieren, ins Meer springen, mich auf Wellenkämmen davontragen lassen und mich danach zuhause auf meiner Veranda einer Selbstgedrehten und einem süffigen, schweren Wein hingeben, der dieses Bild in meinem Hirn auslöscht. Doch das Bild verspottete ihre Gedanken. Es hinterließ in Stefania ein Echo, das sie verstummen ließ.

Wie alt mochte der Junge sein? Zwölf, dreizehn? Höchstens vierzehn. Nicht älter. In keinem Fall älter.

»Er ist doch noch ein Kind … Warum ein Kind?«

Warum ein Kind … Stelios‘ Flüstern hallte in ihrem Innern wider. Es war eine Frage, auf die es keine Antwort gab. Niemals geben würde. 

Und so schwieg Stefania. 

Sie beneidete den Polizeifotografen, der mit seiner Digitalkamera langsam um den Leichnam herumging. Das kühle, glatte Gehäuse gab ihm Schutz, wenngleich einen zweifelhaften Schutz. Sachlichkeit der Technik als Schutzwall vor dem unfassbaren Grauen. Von Kriegsberichterstattern wusste Stefania, dass nicht wenige Fotografen ihren Zorn und ihre Ohnmacht angesichts der unnennbaren Grausamkeiten, die sie für die ahnungslose Außenwelt festhalten mussten, hinter dem kalten, gefühllosen Kameraauge versteckten. 

Darauf bedacht, die Arbeit des Gerichtsmediziners und des Polizeifotografen nicht zu stören, schritt sie langsam um den toten Jungen herum. Es war nur eine vage Erinnerung. Erinnerungsfetzen, die nicht weichen wollten. Dabei war es nicht nur der von oben einfallende Lichtstrahl, der den Raum zerschnitt. Nein, da war noch etwas anderes. Etwas, das das Bild zerriss, ihm zugleich transparente Einheit verlieh. 

Stefania zog den Kopf ein und trat durch den niedrigen Ausgang der Ruine ins Freie. Sie kniff die Augenlider zusammen und spähte hinüber zur anderen Seite. Vielleicht stand er dort drüben. Hinter den Büschen. Jenseits der Mauerreste. Das Ungeheuer, dem sie das Schreckensszenario, diesen Alptraum da drinnen verdankten. Vielleicht stand er hinter der polizeilichen Absperrung, zwischen den Gaffern, die in den frühen Morgenstunden nach ihrem Aufstieg zur Ruine von Angelokastro anstelle der erwarteten Aussicht etwas völlig anderes geboten bekamen. 

Vielleicht steht dieses Ungeheuer dort drüben. 

Schaut zu uns herüber. Beobachtet uns …

*

Ich habe mich zu den Gaffern gesellt. Ein wenig abseits, zwischen die Büsche, hinter ein paar großgewachsene Jugendliche in Sportkleidung, die eifrig über das spekulieren, was sie in der Ruine vermuten. Zu dieser frühen Stunde gibt es nicht viele Gaffer, dennoch genug, um sich vor den Augen der Polizisten zu verstecken. Ich genieße diese Perspektive. Das Verborgene. Verbotene. Es bietet sich mir nicht jeden Tag. Oh ja, ich habe ein Recht darauf, es zu genießen. Nur für wenige Augenblicke, bevor ich …

Doch das kann warten. Hat noch ein wenig Zeit. Alles hat Zeit. Jetzt. Ich lasse mir diese Zeit. Ich kann es mir leisten. Ich darf das. 

Zeit …

Dieser unsinnige Begriff! Diese Leerformel! Manche Wissenschaftler behaupten, es gäbe sie gar nicht. Sie existiere einfach nicht - die Zeit. Betrachten wir zum Beispiel die Tiere. Sie kennen keine Zeit. Hunde