: Peter Nathschläger
: Lucian im Spiegel
: Größenwahn Verlag
: 9783957712196
: 1
: CHF 14.30
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: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 250
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der letzte Tag im Leben von Lucian Trujilo-Ortiz begann mit einer großen, schweigsamen Hitze, die sich silbern in der Stadt ausbreitete. Sie schloss Fenster, zog Vorhänge zu und begrub das Leben unter sich. Ein windstiller, grau bewölkter Sonntag, der Tag nach dem Lärm der Regenbogenparade in Wien ... Lucian Trujilo-Ortiz führt ein Doppelleben. Tagsüber der wohlhabende Sohn des kubanischen Botschaftssekretärs und nachts der begehrteste Stricher der Donaumetropole. Mit den Gefühlen seiner Freunde und Freier spielt er ebenso so gerne wie mit seiner Identität. Am meisten leidet darunter der junge Daniel, der Lucian so sehr liebt, dass er ihn irgendwann nur noch hassen kann. Und Daniel wünscht seinem Liebsten den Tod. Jetzt, 15 Jahre später, kommt ein gewisser Richard Grier zurück in die Stadt. Er war damals nicht nur der erste Polizist am Tatort, er war selbst Kunde in der Stricher-Szene. Und von Lucian fasziniert. Doch Richard Grier belasten Fragen, die nach Antworten schreien. Was genau ist vor 15 Jahre passiert? Und wie konnte es zu der Tat kommen? Peter Nathschlägers neuestes Werk beleuchtet die Nachtseite Wiens. Zwischen Gier und Geld offenbart sich Schritt für Schritt das Leben der flammenden Herzen. Herzen, die sich nichts anderes wünschen, als geliebt zu werden. Doch Liebe braucht Hingabe, Opferbereitschaft und Vertrauen. Eigenschaften, die vor dem Spiegel der Eitelkeit missverstanden werden - auch wenn Spiegel immer die Wahrheit zeigen. Manchmal eine unerträgliche.

Peter Nathschläger, 1965 in Wien geboren, ist er in Biedermannsdorf aufgewachsen. Er arbeitete als Bühnentechniker auf zahlreichen Bühnen, darunter in der Staatsoper, dem Volkstheater und der Volksoper. Heute ist er als IT-Prozess- Manager tätig und lebt in einer eingetragenen Partnerschaft in Wien-Ottakring.

Das geheime Leben der Bäume


Er träumte davon, durch einen Birkenwald zu gehen, und das ist seltsam. Auf Kuba, wo er seine Kindheit verbracht hatte, gibt es keine Birken. Und hier, in Österreich, sind wir nie in einem solchen Wald gewesen. Im Traum ging er durch einen weiten Wald voller Birken, auf einem weichen Boden aus Laub und Moos, und er strich mit seinen Händen über jeden Stamm. Er rieb über die faserige Maserung, um das Leben in den Stämmen zu spüren, das geheime Leben der Bäume. Er wusste vom geheimen Leben der Bäume.

Wie also konnte er träumen, durch Birkenwälder zu gehen?

An guten Tagen war Lucian einfach nur unser Sohn. Er stand morgens auf, duschte, zog Jeans und T-Shirt an, frühstückte mit uns und ging zur Universität. Dann kam er nach Hause, aß mit uns gemeinsam zu Abend und erzählte von seinem Tag. So charmant konnte er sein. Sie wissen das sicher. Sehr einnehmend. Lucian war ein sehr einfühlsamer junger Mann. Wenn einer davon träumt, durch Birkenwälder zu gehen, um das geheime Leben der Bäume zu erfühlen!

Einmal, vielleicht als er mir zum ersten Mal von seinem Traum berichtete, von dem mit den Birkenwäldern, sagte ich zu ihm, er würde reden wie Reinaldo Arenas. Er fragte mich, Wer ist das? Und ich antwortete, Das war ein berühmter kubanischer Schriftsteller. Ein Revolutionär, ein Schwuler, ein Schriftsteller, der Anfang der Neunziger im Exil in den Vereinigten Staaten an Aids starb.

Ein paar Tage später hatte Lucian ein paar von Arenas̕ Büchern gekauft, Originalausgaben auf Spanisch. Wussten Sie, dass er fließend Französisch und Englisch sprach? Deutsch und Spanisch sowieso. Er war so talentiert.

Der andere Traum, von dem er seiner Mutter und mir erzählte, war noch symbolischer, wie ich finde. Er weihte mich in diesen Traum an einem dieser guten Tage ein, vielleicht einen Monat, bevor er ...

In diesem anderen Traum wachte er in einem sehr großen Zimmer in einem alten Haus mit hohen Decken auf. Es hatte drei Doppelfenster, die auf einen begrünten Innenhof hinausgingen. Dort war er allein und nur in diesem Zimmer. Er schlief, könnte man wohl so sagen, hier ein, und wachte dort als ein anderer Junge auf, der auch Lucian hieß. In diesem Zimmer, das vielleicht in Italien war, sagte er nebenher, Du, die reden dort Italienisch. Draußen, im Hof. Ihre Stimmen flattern von draußen rein wie Vogelgesang. Aber das war es nicht, worum es in dem Traum ging. Es war der Sperling. Immer, wenn er in diesem Zimmer erwachte, das voller Staub und alter Möbel war, schien die Sonne und das mittlere Fenster stand offen. Das Rauschen der alten, hohen Bäume war zu hören, und die Sonne schien. Und auf der Fensterbank saß ein Sperling. Lucian im Traum stand auf und nahm jedes Mal eine Schale mit Vogelfutter vom Tisch in der Mitte des Zimmers und stellte sie auf die Fensterbank. Der Sperling pickte darin herum und flog nach einer Weile wieder davon. Und es sah immer so aus, als ob er glänzte. So hell, als würde er in seinem eigenen Licht fliegen. Dass er immer nur in diesem Zimmer war, wenn er diesen Traum träumte, erschreckte Lucian nicht. Er empfand seine Anwesenheit dort als selbstverständlich und beruhigend.

An manchen, an viel zu wenigen Tagen war Lucian also nur unser Sohn. Doch an viel zu vielen anderen, den bösen Tagen, kleidete er sich anders. Er wurde dunkler und mutwilliger und herausfordernd. Wie eine Figur in einer Geisterbahn, die sich aus dem Licht ins Dunkle dreht. Es muss ein paar Wochen vor seinem Tod gewesen sein, als er in mein Arbeitszimmer stürmte, ohne anzuklopfen, und mir die Bücher von Arenas vor die Füße warf und mich anschrie, ob es mir gefallen würde, ihm durch die Bücher eines Fremden zu sagen, dass ich ihn für einen Arschficker hielt. Ja, schrie er, und er war wütend und verletzt, ja, Papa, ich bin schwul. Ich lasse mich von Männern in den Arsch ficken. Und weißt du was noch? Ich nehme Geld dafür, weil ich mag, wenn sie mich nachher dafür bezahlen! Ich ohrfeigte ihn über den Tisch hinweg, weil ich sah, dass er mich reizen, weil er meinen Zorn als Beweis seiner Überlegenheit wollte, und er richtete sich auf,