Vom Evangelium provoziert …
»Steht auf!« Der kurze Appell gleicht einem Ruf zum Aufstand und erinnert an den Beginn der Internationale: »Wacht auf, Verdammte dieser Erde!« Er könnte aber auch die Überschrift für ein Kinderlied sein, mit dem meine Nichte gerne ihre Eltern weckt. Dort heißt es: »Du Schläfer, du Später, du Schlafmützenpeter, du Erzmurmeltier! – Heraus mit dir!« Auch wenn wir liebevoll geweckt werden, fällt das Aufstehen manchmal schwer. Man möchte das warme Bett nicht verlassen, sondern würde lieber noch etwas länger liegen bleiben. Ebenso gibt es unangenehme Erfahrungen: Schrill klingelt der Wecker. Er reißt dich aus dem Schlaf. Vor Schreck stehst du im Bett und er ruft dir zu: »Heraus mit dir!« Desgleichen können wir im übertragenen Sinn »aufgeweckt werden«: Durch eine unverhoffte Begegnung, durch einen tragischen Schicksalsschlag oder durch die überraschende Wendung einer Situation.
Nichts anderes umschreibt das Wort »Provokation«. Es leitet sich vom Lateinischenpro-vocare ab und meint »hervor- und herausrufen, auffordern, reizen, wecken«. Oft will eine Provokation uns aufwecken, uns herausrufen aus unserer wohlgeordneten Welt, und die Augen für das Wesentliche öffnen. Sie will zum Widerstand reizen, indem gewohnte Sachverhalte in bewusst übertriebener Form verfremdet oder überzeichnet dargestellt werden.
So verstanden musste das Markusevangelium, das unter den vier Evangelien das älteste ist und wahrscheinlich um70 n. Chr. entstand, für seine ersten Leser, die noch nicht zum christlichen Glauben gefunden hatten, eine echte Provokation gewesen sein. Wie konnte man die Lebens- und Leidensgeschichte eines unbedeutenden Mannes aus dem galiläischen Nazareth – einem unbekannten Nest am Rand des römischen Weltreiches –, der von den religiösen Führern seines Volkes verachtet und von der römischen Besatzungsmacht als Verbrecher am Kreuz öffentlich hingerichtet wurde, als »Evangelium« – als »frohe Botschaft« – titulieren? Ursprünglich bezeichnete der Begriff »Evangelium« eine Freudenbotschaft des Kaisers und wurde generell in der Mehrzahl verwendet. Solche »guten Nachrichten«, die im ganzen römischen Reich verkündet wurden, waren z. B. Siege über feindliche Heere, Ankündigungen von Steuererleichterungen oder die Geburt eines möglichen Thronfolgers. Was hat das alles mit einem gekreuzigten Galiläer zu tun?
Der Evangelist Markus ist der erste Schriftsteller, der vom Evangelium in der Einzahl spricht und damit bewusst oder unbewusst eine neue literarische Gattung schafft. Dabei endet sein Werk gar nicht freudig (vgl. Mk 16,1–8). In seiner ursprünglichen Schlussszene kommen am Sonntag nach der Kreuzigung drei Frauen zum Grab Jesu. Sie wollen seinen Leichnam salben. Dort begegnet ihnen ein Mann im weißen Gewand, ein Engel, der ihnen verkündet, dass der Gekreuzigte auferweckt worden sei und seinen Jüngern nach Galiläa vorausgehe. Dies sollten sie Petrus und seinen Gefährten verkünden. Eigentlich müsste man annehmen, dass sich die Frauen über die überraschend positive Wendung des Geschehens freuen würden. Doch sie verlassen mit Furcht und Entsetzen das Grab und erzählen niemanden etwas davon. Von Osterjubel und Auferstehungsfreude keine Spur! Verstummen und Erschrecken stehen am Ende des Markusevangeliums!
Dieser sogenannte »offene Schluss« provoziert im wahrsten Sinn des Wortes. Unweigerlich muss sich der Leser fragen: Was soll das? Welche Reaktionen will der Evangelist Markus wecken? Wie ist es mit den Frauen weitergegangen?
Nachfolgende Generationen haben den »offenen Schluss« nicht ausgehalten. Mit Hilfe des Matthäus- und des Lukasevangeliums, die später entstanden sind, bastelten sie ein Happy End, sodass alles noch gut ausgeht (vgl. Mk 16,9