1. KAPITEL
Amelia Miller hob den Kopf, als eine kräftige Windbö die Fensterscheiben in dem alten viktorianischen Haus erzittern ließ. Das Gemäuer hatte während seiner hundertzwanzig Jahre schon wesentlich stärkeren Stürmen standgehalten. Dieser erste Oktoberregen war trotzdem ziemlich heftig.
Sie streckte die Füße näher zu dem künstlichen gasbetriebenen Kamin. Draußen war es um die null Grad. Ihr kleines Hotel – eher eine Frühstückspension – war zum Wochenende hin ausgebucht, und die Gäste, von denen die letzten erst vor wenig mehr als einer Stunde eingetroffen waren, hatten es sich in ihren Zimmern gemütlich gemacht.
In ihrer überschaubaren Welt war alles in bester Ordnung.
Die meisten ihrer Gäste waren Paare und übers Wochenende aus Boise zum Wandern hergekommen. Der Herbst hatte die Hügel bunt angemalt – die Espen und Pappeln leuchteten in diesem Jahr besonders schön. Blieb nur zu hoffen, dass die Naturliebhaber sich vom Regen nicht von ihren Ausflügen abhielten ließen.
Beim Blick auf die Uhr stellte Amelia fest, dass es fast elf war. Sie gähnte, trank den Rest ihres Kräutertees und klappte den Liebesroman zu, in dem sie gerade gelesen hatte. Er erinnerte sie an ihre eigene Jugend: Im Alter von zwanzig Jahren hatte sie sich in einen blendend aussehenden Cowboy verguckt, der wegen des Rodeos in die Stadt gekommen war. Nachdem sie einander gerade einmal zwei Wochen gekannt hatten, hatte sie ihn geheiratet und sich auf das größte Abenteuer ihres Lebens gefreut.
Das Herzklopfen hatte etwa zwei Monate gedauert, die Ehe immerhin zwei Jahre gehalten – vor allem wegen ihrer Hartnäckigkeit, denn so schnell gab Amelia nicht auf. Ihr schöner Cowboy hatte sich leider als cholerischer Typ und noch dazu hinterhältig entpuppt. Als sie ihm den Besuch einer Eheberatung vorgeschlagen hatte, war er gewalttätig geworden. Daraufhin hatte sie ihre Sachen gepackt und war gegangen. Sie musste sich eingestehen, einen schweren Fehler gemacht zu haben.
Mit dreiunddreißig waren ihr dann nicht mehr so viele Illusionen geblieben. Ihr Glück bestand inzwischen aus einem ausgebuchten Hotel und einem Dach, durch das esnicht regnete – so viel zu junger Liebe und den Träumen, die damit verbunden waren …
Sie musste lächeln, als sie an ihre Naivität von damals dachte. Gleichzeitig empfand sie ein Gefühl von Melancholie. Erneut gähnte sie. Es war höchste Zeit, ins Bett zu gehen. Um halb sechs würde die Nacht für sie schließlich vorbei sein.
Das Läuten der Türklingel erschreckte sie. Amelia schlüpfte in die flauschigen Pantoffeln, band ihren Morgenmantel fester zu und betrat den Korridor. Im Licht der Außenlampen zu beiden Seiten der Eingangstür erkannte sie durch die Butzenscheiben einen einsamen Mann. Den Kopf hatte er gesenkt, als wäre er tief in Gedanken versunken, und die Hände hielt er in den Taschen seines Trenchcoats vergraben, der wiederum vor Nässe glänzte.
„Wer ist da?“, fragte sie durch die geschlossene Tür.
„Amelia? Ich bin’s, Seth Dalton.“
Seth Dalton! Der Junge, bei dessen Anblick sie als Sechzehnjährige immer Herzklopfen bekommen hatte. Er war der älteste der Dalton-Brüder, die nach dem frühen Tod ihrer Eltern von ihrem Onkel Nick und dessen Frau Milly aufgenommen worden waren. Seltsamerweise klopfte Amelias Herz auch jetzt schneller, als sie die Tür öffnete.
„Bei diesem Wetter schickt man ja keinen Hund vor die Tür!“, begrüßte sie ihn. Nachdem er seinen Regenmantel auf der Veranda ausgeschüttelt hatte, kam er ins Haus.
Er schloss die Tür, stellte seinen Rucksack ab und hängte den Mantel an einen Haken. „Ja, schrecklich“, pflichtete er ihr mit einem müden Lächeln bei.
„Ähm … Hatten wir eine Verabredung?“
„Nein. Ich wollte zur Ranch, bin aber später als geplant aus der Stadt zurückgekommen. Es war so viel Verkehr auf der Straße … und dazu dieses Unwetter. Ich habe fast drei Stunden auf der