1907
[18] Anton Kippenberg an Stefan Zweig, [Leipzig], 2. Januar 1907
2. I. [07].1
Diktat.
Lieber Herr Doktor!
Heute nur eine Frage: Der junge Graf Kalckreuth, dessen Verlaine-Übersetzung wir kürzlich brachten,2 hat eine überaus gelungene Übersetzung der »Fleurs du mal«3 hinterlassen, die ich im Begriff bin, zum Druck zu geben. Schwierigkeit macht mir der Titel. Stefan George übersetzt »Die Blumen des Bösen«, was ich sehr wenig acceptable finde; ich dachte an »Die Giftblumen«. Würden Sie wohl die Freundlichkeit haben, mir darüber Ihre Meinung zu sagen oder mir eine sonstige Übersetzung vorzuschlagen? Ich finde, offen gesagt, keine Bessere.
Mit vielem Dank im voraus, besten Wünschen für das neue Jahr und verbindlichen Grüssen
Ihr sehr ergebener
[Anton Kippenberg]
1Im Original versehentlich »06«.
2Paul Verlaine:Ausgewählte Gedichte. Übertragen von Graf Wolf von Kalckreuth, Insel-Verlag, 1906.
3Charles Baudelaires GedichtbandLes Fleurs du mal war in einer ersten Ausgabe 1857 im Pariser Verlag Poulet-Malassis et De Broise erschienen.
[19] Stefan Zweig an Anton Kippenberg, Wien, o. D.
[Eingangsdatum: 14. Januar 1907]
WienI
Rathhausstrasse 17
Sehr verehrter Herr Doktor,
Ihr Brief erreichte mich erst heute über den Umweg Südtirol.1 Mit den »Fleurs du mal« ist das eine böse Sache. Ich dachte immer an »Die argen Blumen«, »Die verruchten Blumen«, »Giftblumen« (das zweite ist wohl das Beste), aber wenn man kühn ist und dasBöse mit Satan identificiert, so käme man vielleicht mit »Die satanischen Blumen« dem Sinne B[audelaire]'s am nächsten. Übrigens sehe ich nichts dabei, sie – trotz George – wieder »Die Blumen des Bösen« zu nennen.2
Ich will mich nicht mit einem Rat zudrängen, aber ich meine, Sie werden überhaupt damit nicht viel Seide spinnen. Von meiner eigenen Übertragung (die teilweise sehr böse ist) schwimmen dank der Verramschung Seemann's 2000 Ex.* in Deutschland herum,3 George und die Ausgabe bei Bruns4 haben sich auch viel Platz genommen und dann – ist Kalckreuth wirklich so erstclassig? Eine unnummerierte Ausgabe wäre ja wohl das Beste.
Wenn Sie aber die französische Lyrik überhaupt complettieren wollen, so will ich Ihnen meinen eigenen alten Plan vorlegen. Eine Anthologie »Neufranzösische Lyrik« (seit Victor Hugo). Und zwar Übertragungen:
Victor Hugo (Leuthold, Geibel, Freiligrath ect. ect.)
Verlaine (Dehmel, Evers, Schlaf ect.)
Heredia (Schaukal)
Giraud (Hartleben)
Gustave Kahn (Bierbaum)
Lerberghe (Otto Hauser)
Mallarmé (Schaukal, K. L. Ammer)
Rimbaud (K. L. Ammer)
Verhaeren (Zweig)
Laforgue (Wiegler)
Maeterlink (K. L. Ammer, Bronikowski)
u. s. f.Samain,Vielé-Griffin,Sully Prudhomme,Mendès,André Gide,Paul Fort von verschiedenen guten Übersetzern. Das ganze ein mittelstarker Band mit paar Holzschnittportraits Vallottons.5
Ich bin gerade im Vorschlagen und will Ihnen die andere Idee vortragen, die ich Ihnen schon ankündigte. Ein Buch, an dem zu verdienen wäre. Eine Anthologie »Deutsche Sonnette«. Und zwar 100 Sonnette seit Goethe bis heute, also Goethe, Novalis, Platen, Eichendorff, Keller, Hebbel, Saar, Heine, Liliencron, Dehmel bis Schröder. Damit wäre zum erstenmale der Beweis geliefert, dass auch Deutschland sein Sonnett hat. Und danach, dass typographisch das Sonnett einen Einheitsdruckspiegel darbietet, wäre da irgend eines jener kleinen Wunder der Ausstattung zu schaffen, wie sie der Inselverlag ja einzig hat. Ein veritables Geschenkbuch.
Natürlich keine Einleitung. Ich würde vielleicht gar nicht als Herausgeber zeichnen (habe auch nichts dagegen, wenn Sie die Idee von jemand anderem ausführen lassen). Ich hätte nur eine Freude, das Buch bei Ihnen erscheinen zu sehen. Es eilt selbstverständlich nicht, vielleicht kommen Sie einmal gelegentlich darauf zurück.
Das nur so gelegentlich. Glauben Sie ja nicht, ich will Ihren Verlag mit Büchern überschütten: ich merke nur so ein paar buchhändlerische Gedanken an, die mich freuen, wenn sie einmal zur Ausführung gelangen, und mich nicht bedrücken, wenn sie liegen bleiben. Ich werde Ihnen in diesem und dem nächsten Jahre von Eigenem nichts als mein Drama zur Prüfung vorlegen, sobald ich eine definitive Fassung mit dem Theater zu Berlin vereinbart habe. Doch das hat noch Zeit.
Ergebenst grüssend
Stefan Zweig
P. S. Sollten die »Gespräche mit Goethe« bei Ihnen in zweiter Auflage erscheinen, so machen Sie bitte die Herausgeber darauf aufmerksam, dass Grillparzers Besuch (vgl. Tagebuch) wohl das Plastischeste ist, was über G[oethe]. geschrieben wurde, und das Fehlen dieses Gesprächs eine sichtbare Lücke.6
* jetzt, wie ich höre, zu 60 und 70 Pf.
1Zweig hatte sich von Mitte Dezember bis Weihnachten im Hotel Schloss Labers bei Meran aufgehalten.
2Trotz Anton Kippenbergs Zweifeln erschien Charles Baudelaires Buch 1907 im Insel-Verlag unter dem TitelDie Blumen des Bösen, in deutsche Verse übertragen von Wolf von Kalckreuth. Sechs Jahre zuvor waren bei Bondi in Berlin unter demselben Titel Stefan Georges Umdichtungen des Werkes veröffentlicht worden.
3Charles Baudelaire:Gedichte in Vers und Prosa. Übersetzt von Camill Hoffmann und Stefan Zweig, Leipzig, E. A. Seemann, 1902. Zweig bezieht sich hier auf seine Übertragungen einiger Gedichte ausLes Fleurs du mal, die in diesem Band enthalten sind.
4Ab 1901 warenCharles Baudelaires Werke in einer mehrbändigen deutschen Ausgabe beim Verlag Bruns in Minden in Westfalen erschienen.
5In ganz ähnlicher Ausstattung und mit einem Porträt Paul Verlaines von Félix Vallotton war bereits 1902 der von Stefan Zweig herausgegebene BandGedichte von Paul Verlaine. Eine Anthologie der besten Übertragungen bei Schuster& Loeffler in Berlin erschienen.
6Goethe im Gespräch. Ausgewählt, eingeleitet und herausgegeben von Franz Deibel und Friedrich Gundelfinger, Insel-Verlag, 1906. Der von Zweig vorgeschlagene Text ist auch in die...