1. Kapitel
»Das wäre alles für heute, meine Herrschaften!«
Professor Kersten schlug sein Buch zu und wischte ein imaginäres Stäubchen vom Revers seines weißen Kittels. Niemand wusste, warum er ihn in der Vorlesung trug, gab es hier doch nichts, was wir sezieren mussten. Aber es war eine Angewohnheit von ihm, die er wohl nie ablegen würde.
Das Klopfen Dutzender Fingerknöchel auf den Tischen des Hörsaals folgte seinen Worten wie Donnergrollen einem Blitz. Wenig später kam in den Bankreihen Bewegung auf.
Auch Kitty neben mir erhob sich. Eigentlich hieß sie Katrina Vaderby, aber so wurde sie nur von den Professoren gerufen. Sie selbst nannte sich Kitty, ebenso wie ihre Kommilitonen und Freunde. Eine braune Locke fiel ihr ins Gesicht, als sie sich ihren Schal um den Hals schlang. Sie war meine Freundin, mit der ich mir ein Zimmer im Studentenwohnheim teilte. Früher hatte meine Mutter ein Haus in Stockholm besessen, doch dieses war verkauft worden, um dem Löwenhof nach dem Krieg wieder auf die Beine zu helfen.
»He, Solveig, wie wäre es, wenn ich bei Kersten mit dem Thema ›Geschlechtskrankheiten bei Pferden‹ promovieren würde?«, sagte sie kichernd, während sie ihre Schreibutensilien zusammenraffte.
»Wahrscheinlich würde er einen Schock erleiden. Das kannst du nicht tun.« Lachtränen stiegen mir in die Augen. Sie hatte immer solche Bemerkungen auf Lager. Das war einer der Gründe, wieso ich sie so sehr mochte.
Professor Kersten war noch von der alten Garde, er hatte bereits während des Weltkrieges gelehrt und stand mittlerweile kurz vor seiner Pensionierung. Ob er uns noch durch unsere Doktorandenzeit begleiten würde, war fraglich. Aber Kittys Vorschlag brachte mich zum Schmunzeln.
»Die Beschälseuche ist ein ernstes Thema!«, ahmte sie seinen Tonfall nach. »Du hast das doch letzte Woche bei Professorin Rubinstein gehört! Ich meine, dass Pferde deswegen getötet werden müssen …«
»Dann solltest du besser bei ihr promovieren«, gab ich zurück und packte ebenfalls meine Sachen. »Ich halte das ohnehin für eine gute Idee. Die Professorin hat moderne Ansichten. Wenn ich meinen Doktor mache, dann bei ihr.«
Damit verließen Kitty und ich den Hörsaal der Veterinärhögskolan. Überall standen kleine Grüppchen plaudernd zusammen, einige trotz des kalten Wintertags in schrillbunte Kleider und Pullover gehüllt. Dagegen wirkte ich ein wenig farblos mit meinem grauen Wollmantel und den groben braunen Stiefeln. Der einzige Farbtupfer an mir war eine lindgrüne Wollmütze, die ich mir im Kaufhaus zugelegt hatte. Kitty fand, dass sie mir stand und meine grünen Augen, die ich von meinem Vater geerbt hatte, gut zur Geltung brachte.
»Was hast du eigentlich in den Semesterferien vor?«, fragte ich, wohl wissend, wohin mich meine freie Zeit führen würde. Seit den Weihnachtsferien war ich nicht mehr auf dem Löwenhof gewesen. In den kommenden Wochen würde ich endlich wieder Zeit haben, auszureiten und anschließend im warmen Salon meiner Großmutter zu sitzen, um ein Buch zu lesen.
»Wenn ich ehrlich bin, weiß ich es noch nicht genau«, antwortete Kitty. »Eigentlich wollten wir zum Skifahren, aber Marten will nach Frankreich. Bei dem Wetter, kannst du dir das vorstellen?«
»Im Süden ist es sicher sonnig und warm.« Ich wusste nicht, warum sie sich beschwerte. Marten Ingersson trug sie auf Händen, und eine Reise nach Frankreich klang sehr romantisch. Vielleicht wollte er ihr dort einen Heiratsantrag machen?