JULIAN BARNES
NACHRUF AUF ANITA BROOKNER,
erschienen inThe Guardian am18. März2016.
Es gab niemanden, der ihr auch nur ansatzweise vergleichbar gewesen wäre.
Nur zu leicht verwechselte man Anita Brookner mit ihren unglücklichen Protagonistinnen – allesamt alte Jungfern – aber die Gewinnerin des Booker Prize war eine Romanschriftstellerin von unvergleichlichem Witz und Lebensklugheit, und eine der angesehensten Kunsthistorikerinnen der jüngeren Geschichte.
Anita beugte sich bei unserem Mittagessen über den Tisch, um zu inspizieren, was ich auf dem Teller hatte. „Wie schmeckt das?“, fragte sie. Und dann, mit einem breiteren, erwartungsvolleren Lächeln: „Enttäuschend?“
Anita erzählte mir, dass sie gerade einen Roman fertiggestellt habe, und dann fügte sie in gedämpftem, vertraulichem Ton hinzu: »Er handelt von … einer einsamen Frau.«
Anita, die grundsätzlich als Erste da war, egal wie früh ich kam, begrüßte mich mit ihrem üblichen, beunruhigenden Einstieg: »Na, was hast du Schönes für mich?«
So ein Mittagessen dauerte nie länger als75 Minuten, für gewöhnlich bestellte sie Fisch und hinterher einen schwarzen Kaffee, zu dem sie zwei Zigaretten rauchte. (Eine ganze Weile waren es Sovereigns, eine Art Benson& Hedges für Arme: Das war das einzige nicht vollkommen elegante Element ihres Auftritts, das ich jemals an ihr beobachtet habe.)
Anita erzählte mir, dass sie gerade einen weiteren Roman fertiggestellt habe, und dass sie jetzt, wo sie ihn vom Schreibtisch habe, tun könne, was sie wolle.
»Tja, in deinem Fall«, witzelte ich, »heißt das wohl, dass du jetzt noch mal den gesamten Proust liest.« Es folgte eine leicht erschrockene Schweigepause. »Wie hast du das jetzt erraten?« In regelmäßigen Abständen fragte sie mich, wie alt ich sei. Ich gab Auskunft, und dann antwortete sie mit einer Art enthusiastischer Melancholie: »Da hast du ja noch zehn gute Jahre vor dir.« Die Frage wurde über die nächsten Jahrzehnte wiederholt, und auf meine Antwort erwiderte sie jedes Mal dasselbe. Allerdings fiel mir auf, dass der Enthusiasmus im Laufe der Zeit zu einer Art mitleidiger Hoffnung zusammenschrumpfte.
Sie war geistreich, funkelnd intelligent, reserviert und unberechenbar, und zwar noch viel mehr, als sie selbst beabsichtigte. Ich wüsste keinen Romanschriftsteller, bei dem es unwahrscheinlicher wäre, dass er eine Autobiographie verfasst. Sie war entschieden moralisch, ohne moralinsauer zu sein, und entschieden wahrheitsliebend. Einmal war ich für ein Interview bei einem Lokalradiosender in London, und das Team befand sich immer noch im Schockzustand, weil tags zuvor Anita einen ihrer (seltenen) Auftritte bei ihnen gehabt hatte. Ich erkundigte mich, was passiert war. »Sie hat jede Frage wahrheitsgemäß beantwortet«, erwiderten sie. Allerdings, und so etwas waren sie eben nicht gewöhnt. Ich kannte sie – nicht besonders gut – über dreißig Jahre. Es gab niemanden, der ihr auch nur ansatzweise vergleichbar gewesen wäre, und niemanden, dessen Präsenz auch nur annähernd denselben Effekt gehabt hätte. Ich war nicht der Einzige, der anders sprach, wenn er ihr gegenübersaß. Ich unterzog Vokabular und Grammatik blitzschnell noch einmal einer kritischen Prüfung, bevor sie meinen Mund verließen; ich merkte, wie ich bei meinen eigenen Äußerungen in Gedanken die Interpunktion berücksichtigte – ich setzte sogar geistige Semikolons, unglaublich! Sie selbst blieb immer ruhig, amüsiert, beherrscht. Aber dann sagte man so was wie: »Was hältst du von Boucher?« (oder irgendeinem anderen von ungefähr tausend Malern), und sie verwandelte sich und war lebendiger als bei allen anderen Gelegenheiten. Sie antwortete sehr präzise, intensiv, ausführlich, mit großer Leidenschaft und leuchtenden Augen, und manchmal ließ sie dabei sogar ein persönliches Detail mit einfließen. Sie erzählte mir einmal, die glücklichste Zeit ihres Lebens sei die gewesen, als sie in Frankreich ihre Doktorarbeit über Greuze geschrieben und dafür im Bus durch den Nebel zu Kunstgalerien in der Provinz gefahren sei. Dabei hatte man das Gefühl, dass der Nebel ein sehr wichtiger Bestandteil dieses Glücks gewesen war.
Bei all dem darf man nicht vergessen, dass sie über einen viel längeren Zeitraum über Kunst nachdachte, schrieb und lehrte, als sie Romane schrieb. Wenn wir nicht die »Booker-Prize-Gewinnerin Anita Brookner« zu betrauern hätten, würden wir uns an eine der glänzendsten, scharfsinnigsten Verfasserinnen von Kunstbüchern in neuerer Zeit erinner