2 Der Meisterdieb
Wir verabscheuen eine Person aus denselben
Gründen, aus denen wir sie lieben.
Russell Banks,The Reserve
Paris, linkes Seine-Ufer
29. Juli
3 Uhr morgens
Der Dieb
Paris war in das klare Licht der Sommernacht getaucht. Auf dem Dach des Musée d’Orsay glitt ein flüchtiger Schatten hinter eine Säule und zeichnete sich dann deutlich im Schein des Halbmonds ab.
Archibald McLean, bekleidet mit einem dunklen Overall, befestigte zwei Seile an seinem Hüftklettergurt. Dann zog er die dunkle Wollmütze bis zu den Augen herunter, die hell in seinem geschwärzten Gesicht leuchteten. Der Dieb schnallte den Rucksack fest und schaute über die Stadt, die sich unter ihm ausbreitete. Vom Dach des bekannten Museums aus hatte er einen eindrucksvollen Blick über das rechte Seine-Ufer: der riesige Louvre mit seinen zahlreichen Statuen, die Zuckerbäcker-Basilika von Sacré-Coeur, die Kuppel des Grand Palais, das Riesenrad vor dem Jardin des Tuileries und die grüne Kuppel der Opéra Garnier. In das Halbdunkel der Nacht getaucht, schien die Stadt zeitlos – es war das Paris von Arsène Lupin und desPhantom der Oper.
Dann streifte er seine Schutzhandschuhe über, entspannte die Muskeln und ließ das Seil an der Steinwand hinab. Heute Abend erwartete ihn eine schwierige und riskante Aufgabe, aber gerade das machte sie auch so aufregend.
Der Polizist
»Das ist doch Wahnsinn!«
Polizeihauptmann Martin Beaumont, der in seinem Wagen die Überwachung übernommen hatte, beobachtete durch sein Fernglas den Mann, den er seit drei Jahren jagte: Archibald McLean, den berühmtesten Gemäldedieb der Gegenwart.
Der junge Ermittler war außer sich vor Aufregung. Heute Abend würde er einen außergewöhnlichen Dieb festnehmen, einen, wie man ihn in einem Polizistenleben nur ein Mal trifft. Schon so lange wartete er auf diesen Augenblick und hatte die Szene bereits x-mal in Gedanken durchgespielt. Um diese Leistung würden ihn Interpol beneiden, ebenso wie die zahlreichen Privatdetektive, die die von Archibald bestohlenen Milliardäre engagiert hatten.
Martin stellte sein Fernglas ein, um besser sehen zu können, und schließlich tauchte der verschwommene Schatten in der Dämmerung auf. Mit klopfendem Herzen beobachtete Martin, wie Archibald sein Seil herunterwarf und sich bis zu den beiden Uhren hinabließ, die auf die Seine blickten. Einen Moment lang hoffte der Polizist, die Gesichtszüge seiner Beute erkennen zu können, doch Archibald war zu weit entfernt und wandte ihm den Rücken zu. So unglaublich es auch schien, in der fünfundzwanzigjährigen Laufbahn des Archibald McLean war es niemandem gelungen, sein wahres Gesicht zu sehen ...
Am unteren Teil der gläsernen, matt glänzenden Uhr hielt Archibald inne. An das Zifferblatt von sieben Metern Durchmesser gepresst, fiel es ihm schwer, sich nicht von der Zeit gedrängt zu fühlen. Obwohl er wusste, dass er Gefahr lief, jeden Augenblick entdeckt zu werden, warf er einen Blick auf die Straße. Der Quai lag ruhig und verlassen da, nur von Zeit zu Zeit fuhr ein Taxi vorbei, und einige wenige nächtliche Passanten spazierten herum oder kehrten nach einer langen Nacht nach Hause zurück.
Ohne Eile stützte sich der Dieb auf dem Steinsims ab und griff nach einem an seinem Klettergurt befestigten Diamant-Glasschneider. Dann durchzog er mit ausholenden, schnellen Bewegungen das Glas mit Schnitten, in dem Bereich, in dem die Messingstreben sich kre