Liebe Leserinnen, liebe Leser,
da Sie dieses Buch zur Hand genommen haben, fragen Sie sich vielleicht, ob Ihr Kind intensive Emotionen hat. Schreit Ihr Kind im Supermarkt, weil es etwas nicht haben darf? Weint es ständig, während alle anderen Kinder anscheinend gut gelaunt sind? Sieht Ihr Kind Sie zornig an, wenn Sie ihm sagen, es dürfe etwas nicht tun? Bekommt es einen Wutanfall, wenn Sie es einfach nur bitten, sich fürs Bett fertig zu machen? Sind die Hausaufgaben ein Albtraum? Fürchten Sie sich davor, zu Ihrem Kind »Nein« zu sagen?
Falls Sie irgendeine dieser Fragen mit Ja beantwortet haben, ist dieses Buch das richtige für Sie. Mögen sich die in den Fragen erwähnten Verhaltensweisen auch unterscheiden, sind sie doch alle ein Anzeichen dafür, dass ein Kind in gewissem Maße an der sogenannten emotionalen Dysregulation leidet. Ein Kind, das emotional dysreguliert ist, reagiert intensiv und unmittelbar auf Situationen oder Umstände, auf die andere möglicherweise gar nicht reagieren, und hat Schwierigkeiten, sich selbst zu regulieren. Man könnte sagen, dieses Kind ist binnen Sekunden von null auf hundert. Solche Verhaltensweisen sind die Antworten Ihres Kindes auf Emotionen, mit denen es anders nicht umgehen kann.
Marsha Linehan entwickelte die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT), um Menschen zu helfen, die Schwierigkeiten mit ihren Emotionen und den daraus entstehenden Verhaltensweisen haben.(1) Bei der DBT erlernen Patienten neue, effektivere Verhaltensweisen, die problematische oder gar gefährliche ersetzen sollen. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf dem Erlernen dialektischen Denkens, um zu akzeptieren, dass unterschiedliche, widersprüchlich erscheinende Sichtweisen wahr sein können. Die Maßnahmen, die wir im gesamten Buch besprechen werden, helfen Menschen bei einem wirksameren Umgang mit ihrer Denk-, Fühl- und Verhaltensweise.
Im Jahr 2001 begann ich (Pat Harvey), den Eltern von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die in DBT-Wohngruppen in Massachusetts lebten, die DBT nahezubringen. Mein Ziel war, die klinische Behandlung der jungen Menschen dadurch zu verbessern, dass ich ihren Eltern dieselben DBT-Fertigkeiten vermittelte, die sie selbst in dem Programm erwarben. Dort traf ich auf meine Co-Autorin, Jeanine. Als Mutter eines Kindes mit emotionaler Dysregulation zeigte sie mir, wie hilfreich diese Fertigkeiten für Eltern sein konnten. Während ich Jeanine die DBT-Fertigkeiten beibrachte, brachte sie mir bei, sensibel für die Geschichten der Eltern zu sein, deren Leben von der intensiven Emotionalität ihres Kindes beherrscht wird. Ich erfuhr vieles über die überwältigenden Emotionen, die Eltern empfinden, wenn ihre Kinder an emotionaler Dysregulation leiden – Emotionen, die von anderen häufig ignoriert oder abgetan werden. Als die Eltern Wege kennenlernten, ihren Kindern zu helfen, wurde klar, dass diese Fertigkeiten ihnen auch in anderen Bereichen ihres Lebens halfen.
Eltern von Kindern, deren Verhalten häufig außer Kontrolle gerät, erzählen mir von ihren Schwierigkeiten, wirkungsvolle Beratung und Hilfe zu erhalten. Jeder scheint einen Rat auf Lager zu haben, und oft unterscheiden sich die Ratschläge oder widersprechen einander. So wird ihnen vielleicht gesagt: »Keine Angst, das ist nur eine Phase« oder »Sei nicht so streng mit deinem Kind« – oder genau das Gegenteil: »Dein Kind braucht mehr Disziplin.« Eltern, die nach Orientierung, Anleitung und praktischen Ratschlägen suchen, fühlen sich weiterhin überfordert. Mit Wut, Traurigkeit und manchmal auch Schuldgefühlen berichten diese Eltern außerdem davon, dass sie von Angehörigen, Schulpersonal und manchen Psychologen für die Verhaltensweisen ihrer Kinder verantwortlich gemacht werden. Ich hoffe, dass dieses Buch Ihnen die Gefühle, die Sie bislang nicht mit anderen teilen konn