: Bertram Weisshaar
: Einfach losgehen Vom Spazieren, Streunen, Wandern und vom Denkengehen
: Eichborn AG
: 9783732560493
: 1
: CHF 13.30
:
: Natur, Technik
: German
: 253
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Bertram Weisshaar verführt uns mit seinem Buch zum Wandern. 'Eine Wanderung an der eigenen Haustüre zu beginnen, scheint mir sehr naheliegend, wortwörtlich das Nächstliegende. Das Überraschende dabei ist: Schon nach wenigen Minuten verändert sich etwas. Jeder Schritt hier, alles ist mir doch so vertraut, unmittelbares Wohnumfeld, und doch ist es ein bisschen so, als wäre es mir nun ein wenig fremd, als wäre ich schon nicht mehr von hier.'

Der Promenadologe Weisshaar beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Gehen. Er spürt nach, wie sich unsere Wahrnehmung verändert, wie wir den Raum sozusagen begreifen können und warum Spaziergänge so wichtig für uns sind.



Bertram Weisshaar arbeitet seit den Neunzigerjahren freiberuflich als Spaziergangsforscher. Ausgebildet als Fotograf und Landschaftsplaner nahm er schon viele Menschen mit auf von ihm hierzu gestaltete Spaziergänge oder auch mehrtägige Wanderungen. Stets suchen dabei seine"Gedankengänge" den ungewöhnlichen Blick und überraschende Perspektiven.

Zielloses Interesse


Ich durchquere das Land bei dieser Tour bis zu einem gewissen Grad mit einer Absicht, aber auch ein Stück weit einfach aufs Geratewohl. Dabei sammeln sich allerlei Erfahrungen an. WobeiErfahrung an dieser Stelle und heutzutage recht eigenartig klingt, sind es doch eherErgehungen. Doch dieses Wort gibt es (noch) nicht im deutschen Wortschatz. Hingegen ist das WortErfahrung ein sehr altes. Es geht zurück auf das mittelhochdeutscheervarunge, das auch die Bedeutung hatte von Durchwanderung oder Erforschung. »Ein kluger Mensch wird heute noch als bewandert bezeichnet, ein Ausdruck, der sich ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen läßt und ›aus eigener Erfahrung kennend‹, eigentlich ›vielgereist‹ meint.«1

Bei meiner »Durchwanderung« begegne ich zahlreichen kleinen Fremdheiten, die dann oft etwas Amüsantes an sich haben. So bemerke ich einen kaum fünf Meter hoch aufgeschütteten Erdhügel, der mit einer überdachten Raststation markiert ist als die »Kiritzscher Höhe«. Mitten im Nirgendwo stoße ich auf Mitarbeiter eines Ausgrabungsprojekts, die nach Spuren einer Siedlung aus vergangenen Jahrhunderten suchen, doch mir keinerlei Fragen beantworten wollen, weil im Heute an diesem Ort niemand sein dürfte. Auf einer völlig vegetationsfreien, weiten Ackerfläche zieht ein Bagger ewig lange, breite Furchen, und Männer mit Detektoren folgen ihm auf der Suche nach alter Munition. Dabei ist es heiß und staubig – ein Hauch von Texas weht über die ausgeräumte Fläche. Der Bagger kommt in einer riesigen Staubwolke auf mich zugefahren, der Baggerfahrer ermahnt mich, ich dürfte keine Holzpflöcke stehlen. Später hupt er mir hinterher und korrigiert gestikulierend meine Laufrichtung nach dem Ort Pödelwitz. Dann, ich weiß beim besten Willen nicht, wie sich das zugetragen hat, passiere ich das zentrale Einfahrtstor des Bergbaubetriebs – allerdings von der Innenseite. Die Dame an der Pforte hat einige Minuten lang damit ein deutliches Problem und mit mir eine angeregte Diskussion, bis ich dann letztlich doch das Betriebsgelände verlassen darf und meines Weges ziehen kann. Ihre letzten Worte waren, was ich denn in Pödelwitz wolle, da sei doch sowieso nix mehr.

Dort allerdings treffe ich zum ersten Mal am heutigen Tag auf einen Menschen, mit dem ich wirklich verständlich sprechen kann. Er und noch 33 weitere Einwohner sind in diesem Dorf geblieben, von einstmals 130 Einwohnern. Die Bergbaugesellschaft betreibt die Planung zur »Überbaggerung« des Ortes. Etwa vier Fünftel der Grundstücke hat der Betrieb bereits aufgekauft. Doch die verbliebenen Einwohner sehen mit erstaunlich gelassener Zuversicht den Gerichtsprozessen entgegen und erhalten einstweilen ihre Häuser und Grundstücke in tadellosem Zustand. Es ist schon recht merkwürdig, ausgerechnet in diesem Ort fühle ich mich heute am wenigsten fremd.

Wenn ich ansonsten mit Menschen zufällig ins Gespräch komme und erzähle, dass ich für mehrere Tage zu Fuß unterwegs bin, erstaunt das die meisten: »Zu Fuß? Das ist stark!« Auch scheinen sie sich zu freuen, dass es das überhaupt noch gibt. Außerhalb von ausgesprochenen Wandergebieten scheint diese Spezies fast ausgestorben. Man erkennt es auch an dem beinahe entsetzten Staunen in den Blic