: Chan Ho-kei
: Das Auge von Hongkong Die sechs Fälle des Inspector Kwan
: Atrium Verlag AG Zürich
: 9783037921111
: 1
: CHF 9.70
:
: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 576
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Inspector Kwan ist der Sherlock Holmes von Hongkong. Chan Ho-kei erzählt das Leben dieses Masterminds anhand seiner spektakulärsten Fälle und entwirft damit ein faszinierendes Panorama vom Leben und Sterben in der erstaunlichsten Stadt der Welt. Hongkong, heute: Inspector Kwan, der aus Respekt vor seiner Kombinationsgabe nur 'Das Auge von Hongkong' genannt wird, liegt im Sterben. Kwan hat sein Leben lang Verbrecher gejagt und ist darüber nicht nur in Polizeikreisen zu einer Legende geworden. Da stürmt sein alter Schüler Sonny herein. Er bittet Kwan um Hilfe bei der Lösung eines bizarren Mords, der mit einer Harpune verübt wurde. Vom Sterbebett aus knackt Kwan ein vermeintlich unlösbares Rätsel - und löst damit den letzten der insgesamt sechs Fälle, die dieser außergewöhnliche Kriminalroman erzählt. Die Geschichte der sechs Fälle des Inspector Kwan ist zugleich die Geschichte einer erstaunlichen Stadt, die einst von China an Großbritannien abgetreten wurde, um dann hundert Jahre später wieder an die Kommunisten zurückzufallen. Im Schatten der Weltgeschichte, die in Hongkong Volten schlug, lauerte stets auch das Verbrechen: Erpresser, Mörder, Räuber, die im Dunkeln agieren, sichtbar nur für einen genialen Polizisten mit gefürchteter Hellsicht: Inspector Kwan, das Auge von Hongkong.

Chan Ho-kei wurde 1975 in Hongkong geboren, wo er bis heute lebt. Er hat als Programmierer, Computerspiele-Entwickler und Manga-Lektor gearbeitet. Für seine Short Storys wurde er mit dem Mystery Writers of Taiwan Award ausgezeichnet, für seinen ersten Roman gewann er den wichtigsten chinesischen Krimipreis.

I Die Wahrheit zwischenSchwarz und Weiß 2013


1


Inspector Lok war der Geruch von Krankenhäusern schon immer verhasst gewesen.

Dieser penetrante antiseptische Gestank, der auch jetzt wieder in der Luft lag. Nicht, dass der Inspector schlechte Erinnerungen an Orte wie diesen hatte; der Geruch erinnerte ihn einfach zu sehr ans Leichenschauhaus. Lok war seit siebenundzwanzig Jahren bei der Polizei und hatte zahllose Leichen gesehen, doch an den Geruch würde er sich nie gewöhnen – aber wer, abgesehen von Nekrophilen, findet schon etwas an toten Körpern?

Lok seufzte. Sein Herz war ihm schwerer als bei jeder Autopsie.

In seinem ordentlichen blauen Anzug stand er neben dem Krankenbett und blickte niedergeschlagen auf den Patienten hinunter: einen weißhaarigen Mann, die Augen geschlossen, das faltige Gesicht unter der Atemmaske gespenstisch bleich. Feine Nadeln durchbohrten die altersfleckige Haut der Hände und verbanden den Mann mit mehreren Überwachungsgeräten. Ein Siebzehn-Zoll-Monitor über dem Bett zeigte seine Vitalparameter an. Die Linien, die sich gemächlich von links nach rechts durchs Bild bewegten, waren das einzige Anzeichen dafür, dass der Patient noch am Leben und kein wohlpräparierter Leichnam war.

Dieser Mann war jahrzehntelang Inspector Loks Mentor gewesen, derjenige, der ihm alles beigebracht hatte, was er über die Aufklärung von Verbrechen wusste.

»Lass dir eines gesagt sein, Sonny. Man löst keine Fälle, indem man sich stur an die Regeln hält. Natürlich ist das Befolgen von Befehlen in der Truppe ehernes Gesetz, doch für uns als Polizisten ist der Schutz der Zivilbevölkerung die oberste Pflicht. Falls die Regeln dazu führen, dass ein unschuldiger Mitbürger zu Schaden kommt, oder falls der Gerechtigkeit nicht Genüge getan wird, ist die Missachtung dieser Regeln ein Gebot der Vernunft.«

Mit einem traurigen Lächeln erinnerte Lok sich an die Worte, die dem alten Mann in allen möglichen Variationen so oft über die Lippen gekommen waren. Seit seiner Beförderung vor vierzehn Jahren nannten ihn alle Inspector Lok, nur sein Mentor benutzte weiter diesen albernen Spitznamen, Sonny. In seinen Augen war Lok immer noch ein Kind. Vor seiner Pensionierung war Superintendent Kwan Chun-dok Leiter der Abteilung B des Central Intelligence Bureau gewesen, des internen Informationsdiensts der Polizei von Hongkong. DasCIB war für die Sammlung und Analyse der Polizeiberichte aus den sechs Regionalkommissariaten zuständig. War dasCIB das Gehirn des Polizeiapparats, so war die Abteilung B der Frontallappen, jener Teil, der für die Auswertung zuständig war, dafür, die Informationen zu sieben und zu sortieren, um aus allen verfügbaren Hinweisen Erkenntnisse zu gewinnen, die womöglich selbst Augenzeugen verborgen geblieben waren. Kwan hatte 1989 die Leitung dieser Kerngruppe übernommen und war schnell zum Spiritus Rector desCIB geworden. Constable Sonny Lok war 1997 in die Abteilung B versetzt und bald Kwans »Schüler« geworden. Kwan war nur ein halbes Jahr lang Loks Vorgesetzter gewesen, setzte aber auch nach seiner Pensionierung die Arbeit bei der Polizei als Sonderberater fort, was ihm immer wieder die Möglichkeit verschaffte, den zweiundzwanzig Jahre jüngeren Sonny Lok unter seine Fittiche zu nehmen. Für den kinderlosen Kwan war Sonny wie ein Sohn.

»Sonny, die psychologische Kriegsführung gegen einen Verdächtigen gleicht dem Pokerspiel – man muss den Gegner täuschen. Sagen wir, du hättest zwei Asse auf der Hand; in dem Fall musst du deinen Gegner glauben lassen, du hättest nur Ramschkarten; ist die Lage jedoch aussichtslos, musst du bluffen wie ein Weltmeister. Du lässt ihn glauben, dein Sieg sei greifbar nahe. Damit bringst du ihn dazu, sich zu verraten.« Wie ein Vater, der seinen Sohn das Leben lehrt, gab Kwan alle seine Tricks an Sonny weiter.

Nach vielen gemeinsamen Jahren behandelte auch Lok Kwan wie seinen Vater, und er kannte seinen M