: Dorothee Sölle
: Fulbert Steffensky
: Mystik und Widerstand
: Kreuz
: 9783451800962
: 1
: CHF 13.50
:
: Christliche Religionen
: German
: 384
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wenn Dorothee Sölle von Mystik spricht, geht es um die Erfahrung der Gottesliebe.Und wo Gott liebt und geliebt wird, küssen sich Gerechtigkeit und Friede, geht es um die Wirklichkeit einer befreiten Welt. In ihrem bedeutenden Mystikbuch zieht Sölle Verbindungen von den religiösen Traditionen hin zu den Freiheitskämpfen der Gegenwart: Mystik ist Widerstand und mystische Frömmigkeit verändert die Menschen von innen heraus zu einer größeren Hoffnung.

Dorothee Sölle (1929-2003) zählt zu den profiliertesten Theologinnen des 20. Jahrhunderts. Ihr Auftreten auf Kirchentagen, ihr Engagement in der Friedensbewegung, für die Bewahrung der Schöpfung und für Gerechtigkeit zeigen eine Theologie, die ohne gesellschaftliche Relevanz nicht zu denken ist.

Einleitung von Fulbert Steffensky


Es fällt mir schwer,über Dorothee Sölle zu schreiben,über die Frau, mit der ich 34 Jahre verheiratet war. Ich meide Veranstaltungen, in denen ihrer gedacht wird. Ich versuche, das zentrale kirchliche Haus in Hamburg zuübersehen, das ihren Namen trägt. Ich erlebe sie in solchen Situationen als Beredete, nicht als Redende; als Symbol, nicht als ein Mensch aus Fleisch und Blut; eindeutiger gemacht, als sie je war. Sie ist ihrer Widersprüche entkleidet und verehrungswürdig geworden. Sie hat ihre Unvollkommenheit verloren und damit ihren rotzigen Charme. Ich will nicht falsch verstanden werden. Ich freue mich darüber, wenn ihre Texte in Schulbüchern, Anthologien und Kalendern erscheinen. Ich freue mich, wenn eine Straße nach ihr benannt wird. Nur ich selbst gehe nicht gern durch diese Straße, weil die Frau, die ich geliebt und mit der ich gelebt habe, mir dort als Denkmal erscheint. Dazu ist sie mir noch zu wenig tot.

Warum aber schreibe ich die Einleitung zu diesem Buch? Einmal, weil der Verlag es gewünscht hat und ich dem Verlag viel zu dankbar bin, als dass ich diesen Wunsch abschlagen könnte. In der Hauptsache aber, weil ich nicht aufhören will, mit ihr zu reden und zu streiten. Toten gegenüber darf man nicht das letzte Wort behalten. Aber wenn ich sie nicht für tot erkläre, dann werde ich nicht aufhören, die Schönheit ihrer Sprache zu loben, sie auf ihre Widersprüche hinzuweisen, mein Unverständnis auszudrücken, mit ihr zu streiten und michüber unsere grundsätzliche Gemeinsamkeit zu freuen. Das mag etwas mystisch klingen, aber dies ist schließlich die Einleitung zu ihrem Mystikbuch. Nein, genau genommen ist es keine Einleitung in die Mystik. Es sind eher unsystematischeÜberlegungen anhand dieses Buches; Punkte,über die wir immer noch streiten; Punkte,über die wir schon lange einig sind.

Ich finde einen kleinen Text von Dorothee Sölle, den sie wenige Tage vor ihrem Tod geschrieben hat, eine kurze Auslegung eines Verses aus dem Psalm 33:»Unser Herz freut sich des Herrenund wir trauen auf seinen heiligen Namen.« Sie schreibt dazu, schon mit müder Hand:

»Die Freude an Gott ist vielleicht das Allerwichtigste, was die Psalmen uns lehren können. Das Buch der Psalmen ist ja das Liederbuch, das Gesangbuch des Alten Bundes. In ihm stehen verzweifelte Lieder, Klagerufe, Bittgesänge, aber eben auch und vielleicht an erster Stelle die Freude an Gott, an seiner Schöpfung, an Sonne, Mond und Sternen, die auf- und untergehen, an Wäldern und Feldern, an Narzissen und Tulipan.›Oh, wie schön ist Deine Welt, Vater, wenn sie golden strahlet, wenn Dein Glanz herniederfällt und die Luft mit Schimmer malet‹ ist ein Lied, das wir früher oft gesungen haben. Es ist eine Art von Glück, diese Freude an– oder sollte man nicht besser sagen›in‹?– Gott.

Die Psalmen sind in einer Elendswelt entstanden, die wir uns heute kaum noch vorstellen können. Abhängigkeit vom Wetter, vom fehlenden Wasser, von Krankheiten, von Schmerzen,Ängsten, Nöten, denen die Menschen schutzlos ausgeliefert waren. Wieso spielt in dieser Welt derÄngste vor wilden Tieren und habgierigen Feinden, vor frühem Tod und sterbenden Kindern das Lob Gottes eine solche Rolle? Warum›freut sich unser Herz‹ und woher kommt dieses merkwürdige Vertrauen, dass es auch morgen etwas zum Freuen gibt? In einer jüdischen Psalmenauslegung heißt es: Die Welt wird erst sichtbar, wo sie besungen wird. Und wir werden erst glücklich, wenn wir mitsingen.«

Diese Freude in Gott ist in dem kleinen letzten Text eher ein Jubelruf oder ein Gebet. In ihrem Mystikbuch ist sie distanzierter und reflektierter beschrieben:

»Der innerste Ort mystischer Gewissheit lässt sich mit dem alltäglichen Wort›Freude‹ benennen, und ohne sie zu spüren, zu ahnen oder wenigstens zu vermissen, ist die Rede von der mystischen Nähe Gottes unmöglich… Die Freude, der Jubel, die Ekstase, die ohne Grund, Anlass oder Zweck die Seelen›bewohnt‹, verändert sie in verschiedenen Dimensionen. Die Trennungen und Rollenvorschriften der Gesellschaft werden durcheinander gewirbelt, das Verhältnis zum Selbstausdruck des Körpers und zur Leiblichkeit intensiviert sich, und Freude ist die Grundlage, auf der Mystik undÄsthetik in ein Verhältnis treten; beide beziehen sich auf die Schönheit.« (S. 241)

Ich greife zunächst das Wort Schönheit auf. Ihr Durst nach Schönheit ist von ihrer frühen Jugend an ihr Durst nach Musik. In Tagebuchaufzeichnungen der Sechzehnjährigen heißt es:

»Ganz tief innen weiß ich, dass Musik und die Natur die Elemente meines Lebens sind. Musik muss man irgendwie im Blut haben und ganz fest wissen, wie unverlierbar dies für mich ist, wie sie einfach zu mir gehört. Töne, Töne, Töne… Ich kann mir nichts Schöneres denken als Musiklehrerin zu werden und jungen Menschen diese Welt zu erschließen… Ich höre die Johannespassion. Ich möchte so gerne singen, immerzu. Eigentlich können nur j