Kapitel 1
Als ich mich das erste Mal verliebte, war ich zwölf Jahre alt.
Es passierte in der Auguste-Viktoria-Schule in Schöneberg, damals noch eine eigene Stadt im Südwesten Berlins. In einem klotzigen, von schmiedeeisernen Toren bewachten Gebäude, hinter dessen extravaganter Fassade sich ein Labyrinth eisig kalter Klassenzimmer verbarg, lernte ich Tag für Tag Grammatik, Rechnen und Geschichte, darauf folgten Haushaltsführung und kräftigende Leibesübungen im Freien und zu guter Letzt noch ein ausgesprochen oberflächlicher Französischunterricht. Ich hegte eine tiefe Abneigung gegen die Schule, was jedoch nicht daran lag, dass es mir schwerfiel, die fachlichen Anforderungen zu erfüllen. Verschiedene Gouvernanten hatten sich in meiner Kindheit um meine Erziehung gekümmert, wobei meine ein Jahr ältere Schwester Elisabeth – in der Familie stets Liesel genannt – immer die meiste Aufmerksamkeit bekam, weil sie so kränklich war. Bei uns zu Hause hatten täglich Englisch und Französisch, Benehmen, Tanz und Musik auf dem Programm gestanden, und unsere Mutter verlangte in jeder dieser Disziplinen unanfechtbare Perfektion. So mochte ich zwar besser auf die Härten institutionellen Lernens vorbereitet sein als die meisten meiner Klassenkameradinnen, dennoch war mir die Schule verhasst. Ich passte einfach nicht zu den anderen Mädchen mit ihren marmeladenklebrigen Fingern und wollte mich nicht in ihre Gemeinschaft einfügen. Sie hingegen kannten sich fast alle seit frühester Kindheit und verliehen mir wegen meiner vermeintlichen Schüchternheit den SpitznamenMaus, nichtahnend, dass »schüchtern« wohl das letzte Wort gewesen wäre, mit dem meine Mutter mich beschrieben hätte.
Als unser Vater an einem Herzstillstand starb, war ich sechs Jahre alt, doch unsere Trauer um ihn wurde rasch überlagert von der dringenden Notwendigkeit, unser Leben neu zu organisieren. Nach außen musste der Schein gewahrt werden, immerhin stammte die Witwe Josephine Dietrich aus der berühmten Uhrmacherdynastie Felsing, die seit über einem Jahrhundert den Titel »Hoflieferant« führen durfte, doch meine Mutter weigerte sich strikt, Unterstützung von ihrer Familie anzunehmen, und die Rente meines Vaters – er war Polizeileutnant auf der Schöneberger Insel gewesen – reichte bei weitem nicht. So verschwanden schon bald nach seiner Beerdigung die Gouvernanten, weil sie als entbehrlicher Luxus erachtet wurden, und Mutter nahm eine Stelle als Hauswirtschafterin an. Wegen Liesels diffuser gesundheitlicher Beschwerden entwarf Mutter einen Lehrplan für sie, dem sie zu Hause nachgehen sollte. Mich dagegen zwang sie in die steif gestärkte graue Schuluniform, flocht meine rotblonden Haare zu Zöpfen, krönte das Ganze mit einer riesigen Taftschleife auf dem Kopf und führte mich in meinen zehenzwackenden Lacklederschuhen ab in die Schule, wo unbescholtene ältere Fräulein meinen Charakter bilden sollten.
»Benimm dich ordentlich«, ermahnte Mutter mich. »Denk an deine Manieren, und tu, was man dir sagt. Hab ich mich klar ausgedrückt? Durch deine Erziehung bist du vielleicht vielen anderen voraus, aber damit prahlt man nicht.«
Sie hätte sich kein