: Judith Herman
: Die Narben der Gewalt Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden
: Junfermann
: 9783955717636
: 1
: CHF 29.50
:
: Angewandte Psychologie
: German
: 352
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Dieses Buch ist das Ergebnis jahrzehntelanger Forschung und praktischer Arbeit mit Opfern sexueller und häuslicher Gewalt. Es spiegelt zudem die vielfältigen Erfahrungen der Autorin mit zahlreichen anderen traumatisierten Patienten wider, vor allem mit Kriegsveteranen und Terroropfern. 2015 fasste Judith Herman die neuesten Forschungen und Entwicklungen zusammen und ergänzte somit ihren Klassiker, der nie an Aktualität verloren hat. 'Das Buch von Judith Herman ist eines der wichtigsten und gleichzeitig lesbarsten Bücher der modernen Traumaforschung. Es sollte in allen universitären Seminaren zum Thema psychische Traumatisierungen zur Pflichtlektüre gehören.' - Dr. Arne Hofmann

Judith Herman ist Professorin an der Harvard Medical School und leitet ein Programm über Opfer von Gewalttaten am Cambridge Hospital. Seit mehr als 30 Jahren beschäftigt sie sich mit Opfern von Kindesmissbrauch, Vergewaltigung und häuslicher Gewalt.

Einleitung


Gewalttaten verbannt man aus dem Bewusstsein – das ist eine normale Reaktion. Bestimmte Verletzungen des Gesellschaftsvertrages sind zu schrecklich, als dass man sie laut aussprechen könnte: Das ist mit dem Wort „unsagbar“ gemeint.

Doch Gewalttaten lassen sich nicht einfach begraben. Dem Wunsch, etwas Schreckliches zu verleugnen, steht die Gewissheit entgegen, dass Verleugnung unmöglich ist. Viele Sagen und Märchen berichten von Geistern, die nicht in ihren Gräbern ruhen wollen, bis ihre Geschichten erzählt sind. Mord muss ans Tageslicht. Die Erinnerung an furchtbare Ereignisse und das Aussprechen der grässlichen Wahrheit sind Vorbedingungen für die Wiederherstellung der gesellschaftlichen Ordnung, für die Genesung der Opfer.

Der Konflikt zwischen dem Wunsch, schreckliche Ereignisse zu verleugnen, und dem Wunsch, sie laut auszusprechen, ist die zentrale Dialektik des psychischen Traumas. Menschen, die ein Trauma überlebt haben, erzählen davon oft so gefühlsbetont, widersprüchlich und bruchstückhaft, dass sie unglaubwürdig wirken. Damit ist ein Ausweg aus dem Dilemma gefunden, einerseits die Wahrheit sagen und andererseits Stillschweigen wahren zu müssen. Erst wenn die Wahrheit anerkannt ist, kann die Genesung des Opfers beginnen. Doch sehr viel häufiger wird das Schweigen aufrechterhalten, und die Geschichte des traumatischen Ereignisses taugt nicht als Erzählung auf, sondern als Symptom.

Die Symptome psychischen Leidens bei traumatisierten Menschen weisen auf die Existenz eines unaussprechlichen Geheimnisses hin und lenken gleichzeitig davon ab. Besonders deutlich zeigt sich dies, wenn Opfer abwechselnd in Erstarrung verfallen und das Ereignis immer wieder neu erleben. Durch die Dialektik des Traumas entstehen komplexe, manchmal unheimliche Bewusstseinsveränderungen. George Orwell, einer der engagierten Wahrsager des 20. Jahrhunderts, sprach von „Doppeldenk“; Psychiater und Psychologen prägten den sachlich präzisen Begriff „Dissoziation“. Daraus ergeben sich die schillernden, dramatischen und oft bizarren Symptome der Hysterie, in denen Freud vor hundert Jahren versteckte Mitteilungen über sexuellen Missbrauch in der Kindheit erkannte.

Zeugen unterliegen der Dialektik des Traumas ebenso wie die Opfer. Es gelingt dem Beobachter kaum, ruhig zu bleiben, einen klaren Kopf zu bewahren, mehr als einige wenige Bruchstücke des Geschehens gleichzeitig zu erkennen, alle Einzelheiten aufzubewahren und richtig zusammenzusetzen. Noch schwieriger ist es, die richtigen Worte zu finden, um das Beobachtete überzeugend und umfassend zu schildern. Wer versucht, die Gräuel in Worte zu fassen, die er gesehen hat, setzt seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel. Wer über Gräueltaten öffentlich spricht, zieht unweigerlich das Stigma auf sich, das dem Opfer immer anhaftet.

Das Wissen, dass schreckliche Dinge passieren, dringt zwar periodisch ins allgemeine Bewusstsein, hält sich dort jedoch selten lange. Verleugnung, Verdrängung und Dissoziation wirken auf gesellschaftlicher wie auf individueller Ebene. Auch die Erforschung psychischer Traumata hat eine „untergründige“ Geschichte. Wie unsere traumatisierten Patienten sind auch wir Therapeuten vom Wissen um unsere Vergangenheit abgesch