: Aline Valangin
: Tessiner Erzählungen
: Limmat Verlag
: 9783038551454
: 1
: CHF 15.90
:
: Erzählende Literatur
: German
: 320
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Viele dieser Erzählungen hat Aline Valangin in Comologno im Onsernonetal geschrieben, um sie ihren Gästen, zu denen etwa Ignazio Silone oder Kurt Tucholsky gehörten, vorzulesen und Abwechslung in die langen Abende im abgelegenen Bergdorf zu bringen. Die Erzählungen spielen in einem engen Tessiner Bergtal. Aline Valangin ist eine genaue Beobachterin des Dorfes. Ihre Geschichten erzählen von Schlaumeiern und Revoluzzerinnen, insbesondere von den Frauen im Dorf, die die Härten des Lebens am direktesten zu spüren bekommen und ertragen müssen. Valangin sucht in den Erzählungen nicht das idyllische, verklärte Tessin, sondern die urtümlichen, wilden Leidenschaften, ihre Figuren sind wahr, intensiv und lebendig und legen das unvergleichliche menschliche Gespür der Autorin offen.

Aline Valangin (1889-1986), aufgewachsen in Bern. Aus bildung als Pianistin. Verheiratet mit dem Anwalt Wladimir Rosenbaum. Im Zürich der Dreissigerjahre empfing und betreute sie in ihrem Haus Emigranten und Künstler. Tätigkeit als Psychoanalytikerin, Publizistin und Schriftstellerin. Befreundet mit Ignazio Silone und in zweiter Ehe verheiratet mit dem Komponisten Wladimir Vogel. Ab 1936 lebte sie im Tessin in Comologno im Onsernonetal und Ascona.

Das Testament


Die Sciora und die alte Teresa kramten im Estrich des Hauses herum. Immer noch kamen Truhen und Kisten zum Vorschein, die der Sciora neu waren und welche aus der Zeit der früheren Padroni, der echten Padroni, stammten. Die Teresa war gerne bei diesem Räumen dabei, denn im Geheimen glaubte sie, wie alle im Dorf, dass noch einmal ein Schatz ans Tageslicht gebracht würde. Sie hatte zwar schon jedes Winkelchen des großen Hauses ungezählte Male durchsucht und nie etwas Wichtiges gefunden, aber für sie war es trotzdem sicher: Ein Schatz war im Hause und fatal wäre es, wenn diese Sciora, diese Fremde, ihn finden sollte. Denn dieser Schatz, darüber bestand für sie kein Zweifel, gehörte ihr, wie überhaupt das ganze Haus, nach ihrer Meinung, ihr Eigentum war.

Die Sciora hatte sich auf eine der Truhen gesetzt, die voll­gestopft waren mit altem Kram, und beobachtete die Teresa, wie sie sich zu schaffen machte. Wie alt mochte die Frau sein? Ihr Ge­sicht war verrunzelt, aber aus den Falten und Furchen schauten kleine, lebendige Augen, klug wie Elefantenaugen. Sie konnte arbeiten wie ein Mann und war nie krank. Siebzig Jahre mochte sie zählen, und mehr als fünfzig davon hatte sie als Magd im Hause verlebt. Fünfzig Jahre … siebzig Jahre … staunte die Sciora … Warum nicht hundert Jahre und mehr? … Die Zeit schien an der Alten vorbeizugehen, ohne sie zu verändern. Das gleichmäßige Leben, jahraus, jahrein, hatte sie zeitlos gemacht.

Jeden Morgen, Sommer und Winter, stand Teresa um fünf Uhr morgens auf und nach neun Uhr abends war es still in ihrer Kammer. Sie trank ein wenig Milch, im Sommer aß sie Salat aus ihrem Gemüsebeet. Von was sie sonst lebte, hatte die Sciora nie erfahren können. Sie arbeitete schwer, solange der Tag dauerte. Die ganze Arbeit galt ihrer Kuh. Es war die schönste Kuh im Dorf und sie gab die süßeste Milch. Jeden Herbst bekam sie ein Kalb. Das war das große Ereignis im Jahre der Alten geworden. Davon sprach sie wochenlang vorher und wochenlang nachher. Denn das Kalb war, mit der Milch der Kuh, ihre einzige Geldeinnahme. Sie verkaufte es, wenn es groß genug war, dem Metzger im Tal. So ging das Leben weiter und man hätte denken können, es sei immer so gegangen.

Und doch hatte die Teresa einst anders gelebt, ganz anders. Die Sciora hörte sie gerne aus jener vergangenen Zeit berichten. Es gefiel ihr, sich vorzustellen, wie es im Hause gewesen war, früher, als noch die Nachkommen des Erbauers hier wohnten, lange bevor sie es gekauft hatte. Niemand wusste da besser Bescheid als die Teresa, niemand hatte solange im Hause gelebt, wie sie. Sie kannte jeden Schlüssel im Haus und jedes Schloss, jeden Nagel an der Wand, jedes Loch, wo einst ein Nagel gesteckt hatte. Es stand kein Gerät, kein Möbel da, von dem sie nicht die Geschichte wusste, es fand sich kein alter Fetzen Leinwand, dessen Herkunft sie nicht hätte nennen können. Nein, niemand wusste Bescheid wie die Teresa. Jetzt, hier auf dem dunklen Estrich, dachte die Sciora, umgeben von dem alten Plunder, wäre der richtige Ort, der Teresa zuzuhören. Also rief sie ihr zu, sie möge doch das Wühlen sein lassen und ihr lieber wieder einmal die Geschichte erzählen. Die Alte richtete sich auf und kam näher. Ihr Gesicht wurde streng. Sie nahm ihre sonntägliche Haltung an und begann sogleich, denn die Geschichte – es gab für sie nur diese – hatte sie nie genug erzählt. Es war ihre Geschichte, ihre eigene, fa