1. KAPITEL
Gianna Martelli und ihre Zwillingsschwester glichen einander wie ein Ei dem anderen. Kaum jemand konnte sie unterscheiden – bis zu dem Tag, an dem Gianna ihrer Schwester das taillenlange Haar abschnitt. Als Carina ihrem Mann die neue Frisur präsentierte, herrschte einen Moment lang Totenstille.
„Wow!“, sagte Graham Porter dann und sah von einer Frau zur anderen.
„Was soll das heißen?“ Ein Anflug von Panik huschte über Carinas Miene. „Gefällt es dir nicht?“
Beschwichtigend hob er die Hände. „Nein. Das heißt, doch, du siehst toll aus. Es kommt nur so überraschend.“ Hilfesuchend wandte er sich an seinen Schwiegervater. „Was meinst du?“
Franco Martelli grinste. „Die Frisur steht dir ausgezeichnet. Du siehst ganz anders aus als vorher. Damit haben wir gar nicht gerechnet.“
„Siehst du, ich habe dir doch gesagt, du kannst mir vertrauen“, sagte Gianna. „Du siehst großartig aus.“
„Wirst du dein Haar auch abschneiden?“, fragte Franco.
Sie zuckte die Schultern. „Das hatte ich ursprünglich vor, aber Carina möchte es nicht.“
„Ich finde es besser, wenn wir uns wenigstens für eine Weile nicht so stark ähneln. Dann verwechselt uns niemand.“
Gianna schüttelte den Kopf, das lange Haar tanzte um ihre Schultern. „Das ist ewig nicht mehr vorgekommen!“
„Erst letzte Woche auf dem Markt hat Mrs. Falco mich für dich gehalten.“
„Sie ist so blind, dass sie sogarpapà mit Graham verwechseln würde!“
Lachend trat Graham neben seine Frau und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Der Schnitt schmeichelt dir. Du siehst umwerfend aus.“ Carina strahlte ihn glücklich an, und er küsste sie auf den Mund.
„Sucht euch ein Zimmer!“, schnaubte Gianna. „Ich gehe in mein Büro. Wenigstens eine von uns muss arbeiten.“
„Wo wir gerade beim Thema sind: Ich habe die Post bereits durchgesehen und deine Notizen abgetippt“, warf Carina ein. „Deine Agentin hat angerufen. Sie möchte mit dir über die Änderungen an deinem neuen Vertrag reden.“
„Es gibt keinen neuen Vertrag. Ich habe dir doch gesagt, dass das Angebot mich nicht interessiert.“
„Deswegen will sie dich ja sprechen.“
„Ich rufe sie an.“ Die Zärtlichkeiten zwischen ihrer Schwester und deren Mann irritierten Gianna, sosehr sie sich auch bemühte, sie zu ignorieren. Insgeheim beneidete sie die beiden. Was gäbe sie nicht dafür, eine ebenso große Liebe erleben zu dürfen! Sie riss sich zusammen und ging aus dem Raum.
In ihrem Büro angekommen, schloss sie die Tür, umfasste mit beiden Händen ihr langes Haar und wand es zu einem Knoten. Die Lockenmähne zu bändigen erforderte großen Aufwand. Sie hätte besser ihr eigenes Haar abgeschnitten als das ihrer Schwester! Sie fühlte sich ohnehin reif für eine Veränderung. Am besten wäre eine, die einen interessanten Mann in ihr Leben brächte … Seufzend setzte sie sich hinter ihren Schreibtisch, drehte den Stuhl zum Fenster herum und betrachtete die im gleißenden Sonnenlicht liegenden Weinberge.
Das Weingut ihrer Familie lag im Ombronetal, einem der schönsten Landstriche Italiens. Stolz, beinahe zärtlich ließ Gianna den Blick über die Weinstöcke schweifen, aus deren Beeren bald der köstliche Chianti gekeltert werden würde. Hinter den Reben erstreckten sich Getreidefelder und lange Reihen von Zypressen bis hin zu einem Kastanienwald am Horizont. Über allem strahlte der azurblaue Himmel.
Was für ein gesegnetes Land, dachte sie. Kein Künstler hätte ein schöneres Bild zu malen vermocht. Sie verlor sich in dem prächtigen Anblick, während die Morgensonne ihre Wangen küsste.
Nach einer Weile atmete sie tief durch und wandte sich dem Schreibtisch zu. Sie fuhr den Computer hoch, gab ihr Passwort ein und öffnete eine Datei. Minuten später starrte sie immer noch auf den leeren Bildschi