: Christine Lavant
: Klaus Amann, Brigitte Strasser
: Erzählungen aus dem Nachlass Mit ausgewählten autobiographischen Dokumenten
: Wallstein Verlag
: 9783835342323
: Christine Lavant: Werke in vier Bänden
: 1
: CHF 28.10
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: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 828
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der vierte und abschließende Band der Werkausgabe enthält 15 Erzählungen aus dem Nachlass, die hier größtenteils erstmals gedruckt werden. Eine einzigartige Entdeckung. Vierzig Erzählungen etwa hat Christine Lavant geschrieben, aber viele davon zu ihren Lebzeiten nie veröffentlicht. Aus Scheu, zu viel von sich preiszugeben, hielt sie den Großteil ihres Prosawerks zurück. Der vierte und abschließende Band der Werkausgabe versammelt fünfzehn Erzählungen aus dem nachgelassenen Bestand. Nur zwei davon, 'Das Wechselbälgchen' und 'Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus', sind in den letzten Jahren schon veröffentlicht worden, alle anderen werden hier erstmals gedruckt. Außerdem enthält der Band lebensgeschichtliche Dokumente wie Briefe und eine Selbstdarstellung für den Rundfunk, die nicht nur einen intimen Einblick in ihr Leben, ihr Denken und Empfinden erlauben, sondern in erstaunlichem Maße die literarischen Texte des Bandes biographisch befestigen und beglaubigen. Christine Lavant erzählt von dem, was sie am besten kennt: von verletzten Kinder- und Frauenseelen, von feinen und weniger feinen gesellschaftlichen Unterschieden, von Armut, Krankheit und Außenseitertum, von Bigotterie, Wunderglauben und von den Irrwegen religiöser Erlösungshoffnungen; aber immer wieder auch von weiblichem Begehren, vom Rebellieren und von der befreienden Kraft der Fantasie und der Liebe. Vor allem aber erzählt sie - auch in allerhand Verkleidungen - von sich. Und sie zeigt sich dabei völlig ungeniert, schonungslos und ungeschützt. Ihre Prosa aus dem Nachlass ist eine singuläre Entdeckung. Sie ist formal souverän, inhaltlich kompromisslos und oft unerhört komisch.

Christine Lavant, (1915-1973), geb. in St. Stefan im Lavanttal (Kärnten) als neuntes Kind eines Bergmanns, war Lyrikerin und Erzählerin. Ihre Schulbildung musste sie aus gesundheitlichen Gründen früh abbrechen. Jahrzehntelang bestritt sie den Familienunterhalt als Strickerin. Sie erhielt u. a. den Georg-Trakl-Preis (1954 und 1964) und den Großen Österreichischen Staatspreis (1970). Seit 2014 erscheint eine Werkausgabe von Christine Lavant im Wallstein Verlag. Klaus Amann, geb. 1949, studierte Germanistik und Anglistik an der Universität Wien, war bis 2014 Professor für Geschichte und Theorie des Literarischen Lebens und Leiter des Robert Musil-Instituts Klagenfurt. Er publizierte u.a. Bücher über Adalbert Stifter, Robert Musil und Ingeborg Bachmann und ist Mitherausgeber der kommentierten digitalen Gesamtausgabe von Robert Musil.

Das Wechselbälgchen


Wrga die Einäugige hatte ein Wechselbälgchen. Aber sie tat so, als ob sie das nicht wüsste und nannte das Bälgchen manchmal bei seinem schönen Namen. Ja, sie fand diesen Namen überaus schön, obgleich der Duldiger-Pfarrer gesagt hat, dass der Name eigentlich eine Strafe sei, weil die verräterische Königin so geheißen hat und wenn es ein Bub wäre müsste es nach dem verbrecherischen Kaiser Napoleon heißen. Nein, er kannte kein Erbarmen, wo es um eine große Sünde ging und ein Kind bekommen, zu dem man keinen Vater hat, ist eben eine große Sünde. Nein, er hatte auch bei Wrga keine Ausnahme gemacht, wenn sie auch ein gläsernes Auge hatte, das größer und viel schöner als das andere war. Er war gerecht und wenn er mit seiner eigentümlichen schwarzen Kappe durch das Dorf ging legte er immer die Hände auf den Rücken, verstrickte sie dort zu einem Knäuel, so dass er sie beim besten Willen nicht mehr voneinander und nach vorne bringen konnte, wenn etwa Kinder daherkamen und ihm diese Hände hätten küssen wollen. Dorfkinder haben ab und zu noch solche unbegreifliche Einfälle, nicht wahr, und vielleicht denken sie an bunte Bildchen dabei. Und wie leicht könnte es dann sein, dass unter diesen Kindern welche dabei sind, denen man es zuerst gar nicht anmerkt und die vielleicht gar nicht viel schmutziger und ungekämmter als die anderen sind und die zum Schluss dann doch ganz unschuldig sagen, dass sie Zitha oder Napoleon heißen. Davor hatten die Hände des Herrn Pfarrer Angst und so wollten sie lieber ganz und gar ungeküsst bleiben als solches auf sich nehmen. Aber deshalb braucht es noch immer nicht wahr zu sein, dass er – wie die Leute sagten – Vögel unter seiner schwarzen Kappe hätte. Er war einfach gegen die Sünde und für die Gerechtigkeit und wenn er allein herumging beredete er das mit sich und wurde wohl auch manchmal ein bisschen laut dabei und dachte vielleicht, er sei auf der Kanzel – mein Gott, was ist auch dabei? Ein Pfarrer kann schließlich reden wo und wann er will und wenn die Leute dann behaupten, er hätte auch noch ein Spinnrad unter seiner Kappe, so war das nicht nur erlogen, sondern auch unmöglich. Aber so sind die Menschen. Da gehen sie her und streuen unwahre Reden über einen aus und wenn sie dann einmal so oder so in Not sind, dann gehen sie wohl am Ende gerade zu diesem einen, von dem sie eben noch Ungeheures behauptet haben und bekommen gleich im Voraus schon beim Frühbirnenbaum vor dem Pfarrhof Tränen in die Augen und Kummerfalten um den Mund und sagen drinnen dann Hochwürden hin und Hochwürden her und wie schön er beim letzten Hochamt wieder gesungen hätte, so recht zum Herzergreifen und wenn sie dann fortgehen, haben sie das Geld für einen Anzug oder eine Nähmaschine oder was sie halt sonst unbedingt gebraucht haben. Und oft ist es sogar so, dass von dem Geld ausgerechnet eine Zitha oder ein Napoleon ein Paar Schuhe bekommt zum Schulanfang. Denn die Gerechtigkeit hat zwei Seiten und Willibald der Pfarrer muss mit seinen Händen immer wieder daran herumdrehen und dabei werden sie alt und fangen an zu zittern. Seine Kappe und sein Anzug werden dünn und sein Atem kurz. Nur bei der Taufe wagt er nicht an der Gerechtigkeit zu drehen, da bleibt er unerbittlich, auch wenn es noch solche Kämpfe gibt.

Bei Wrga hatte es keine Kämpfe gegeben. Sie hatte das Kind selbst zur Taufe getragen, weil sie niemanden belästigen wollte und vielleicht auch, weil sie es niemandem sagen wollte, woher sie das Kind genommen hat. Und als er sie um der Gerechtigkeit willen strafen musste, begriff sie es gar nicht und geriet vor Freude über diesen feinen Namen außer sich und ihr gewöhnliches Auge erstrahlte fast so schön wie das gläserne. Was hätte er da anderes sagen sollen als einfach: »Gehe hin und sündige nicht wieder!« Ach nein, das wollte sie gewiss nicht, denn zwei Mädchen können nicht Zitha heißen und Napoleon gefiel ihr nicht und einen Vater würde sie kaum je haben, wo sie doch bloß eine alte einäugige Kuhdirn war.

Vielleicht wäre sie nie in ihrem Leben daraufgekommen, dass sie ein Bälgchen hat, wenn nicht Lenz der tüchtige Knecht gekommen wäre. Er kam von den gläsernen Grenzbergen herauf und wusste vielleicht deshalb schon um so viel mehr in allem Bescheid als die anderen Leute. Er hatte mehr mitgemacht als hunderttausend Pfarrer zusammen. Ein ganzes Jahr lang war er zum Beispiel mit der Hacke des Wilden Jägers im Kreuz herumgegangen, hatte dabei seine Arbeit so gut wie jeder andere gemacht, hatte überdies in den Mondnächten den Kampf mit der Truta mora aufgenommen, immer so mit einem aufgestellten spitzen Messer zwischen den gefalteten Händen und den uralten Abwehrspruch auf den Lippen. Und nichts hatte sie ihm anhaben können, nicht das Geringste! Und pünktlich nach einem Jahr war er wieder im Hohlweg zwischen den Radspuren gelegen und der Wilde Jäger hatte voll Freude gesagt: »Da liegt der Klotz ja wieder, in dem ich ferten mein Hackl vergessen hab!« Ja, der Lenz kannte sich in allem aus. Er wusste wie